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Wir müssen uns die Frage stellen, ob wir in einer Welt leben wollen, in der Handelsangestellte von ihrem Vollzeiteinkommen nicht leben können.

Foto: ap/Daniel Roland

In einer vom STANDARD aufgegriffenen Studie sieht die Agenda Austria einen optimalen Mindestlohn im Handel von 1.230 Euro brutto pro Monat für eine Vollzeitstelle vor. Der kollektivvertragliche Mindestlohn in Österreich liegt sogar in dieser Niedriglohnbranche mit 1.439 Euro noch deutlich darüber. Denen, die wenig haben, soll also noch weggenommen werden. Welche Rationalität führt zu so einem Ergebnis? Und welche Folgen hätte die konsequente Umsetzung solcher errechneter Optima?

Das Weltbild hinter solchen Studien hat den Umgang mit Zahlen zum alles dominierenden Fetisch erhoben, dem das Kleid der Neutralität umgehängt wird. Aspekte menschlichen Zusammenlebens werden in Formeln aus Kosten und Nutzen, aus Angebot und Nachfrage gegossen und scheinen unanfechtbare Wahrheiten zu liefern. Als Antwort wird ein Optimum geboten. Das hört sich vorerst gut an. Einem Leser, der daran glaubt, dass gesellschaftliche Problemlagen durch soziale Aushandlungsprozesse bearbeitet und gelöst werden, bereiten solche Zugänge allerdings Unbehagen – entmachten sie doch durch die Bereitstellung vermeintlicher Lösungen gestaltende Politik.

Rein ökonomisiertes Denken

Ein paar Beispiele sollen hier nun aber die Absurdität und die Menschenverachtung, die diesen rein ökonomisierten Zugängen innewohnen, bloßstellen. Diese Absurdität zeigt sich, wenn wir die Frage nach optimalen Löhnen für Kindergärtnerinnen oder etwa Außenministern stellen. Hier wird offensichtlich, dass eben auch Fragen des Lohns durch gesellschaftliche Wertvorstellungen – die Frauen beziehungsweise "weibliche" Berufsgruppen stark benachteiligen – geprägt sind und nicht neutral errechnet werden können. Die Menschenverachtung offenbart sich dann, wenn wir uns vergegenwärtigen, wie tief dieses ökonomisierte Denken in das Soziale eingedrungen ist.

Etwa wenn zutiefst menschliche Tragödien wie Verkehrstote und das Leid, das bei ihren Angehörigen ausgelöst wird, in Geldheinheiten zu erfassen versucht werden oder wenn öffentliche Maßnahmen alleine anhand von Kosten-Nutzen-Abwägungen getroffen werden. Aber auch dann, wenn Immigration rein unter dem Gesichtspunkt von Nutzen auf dem Arbeitsmarkt diskutiert wird oder wenn Bildung und Wissenschaft primär Verwertungsinteressen unterworfen werden. Diese rein ökonomische Rationalität, die Zuspitzung auf Verwertbarkeit bedeutet im Umkehrschluss eine Entwertung all derer, die – aus welchen Gründen auch immer – eben nicht zur Wertschöpfung (überwiegend für andere) beitragen können. In ihrer endgültigen, unverschleierten Logik entzieht sie jenem Leben die Existenzberechtigung.

Politische Agenda

Aber begeben wir uns wieder auf die konkrete Ebene der Handelsangestellten, einer großen und wahrlich nicht privilegierten Berufsgruppe. Warum ist es für sie und im Weiteren für die ganze Gesellschaft wichtig, solchen Vorschlägen, wie von Agenda Austria verbreitet, vehement entgegenzutreten? Dafür bedarf es eines Blicks in die Geschichte der Arbeiterbewegung. Sie hatte das Ziel, die Atomisierung des einzelnen Arbeiters, der einzelnen Arbeiterin zu überwinden, um im Kollektiv den übermächtigen Industriellen mehr Macht entgegensetzen zu können. Nur so gelang es, Arbeitszeit zu verkürzen, höhere Löhne zu verhandeln, soziale Sicherungssysteme zu schaffen und die Arbeitskraft dem freien Spiel des Marktes zu entreißen.

Ein Teil davon ist der Kollektivvertrag, dessen Ziel es ja sein sollte, Konkurrenz auszuschalten und Löhne über dem Marktniveau zu erlangen. Er ist Schutzmechanismus für die schwächeren Markteilnehmer und Marktteilnehmerinnen. Warum wird diese Errungenschaft nun angegriffen? Wenn wir einen Blick hinter die Kulissen der Agenda Austria werfen, verstehen wir, wie die präsentierten Lösungsansätze zustande kommen. Bei dem vermeintlichen Wirtschaftsforschungsinstitut handelt es sich um einen neoliberalen Thinktank, der auf Initiative der Industriellenvereinigung gegründet wurde und von finanzkräftigen Unternehmen unterstützt wird. Die politische Agenda Austria liegt somit auf der Hand.

Entfesselte Wirtschaft

Die neoklassische Wirtschaftstheorie, die so neutral, wie von ihren Verfechtern behauptet, eben nicht ist, wird als Waffe zur Durchsetzung der freien Marktwirtschaft eingesetzt. Und in dieser haben Handelsangestellte in der Konkurrenz mit der wachsenden Zahl an Arbeitslosen nun einmal nicht die besten Karten. Lässt man sich auf dieses Spiel ein, würde das aber zu einer Lohnspirale nach unten führen, die – abgesehen von sozialer Verelendung – aufgrund des Kaufkraftverlusts auch negativ für die österreichische Wirtschaft wäre. Erreicht hätte man aber, was anscheinend das Ziel der Agenda Austria ist: eine entfesselte Wirtschaft und gefesselte Politik und Menschen.

Deshalb heißt es, solchen Vorstößen vehement entgegenzutreten und tatsächliche Lösungen für die steigende Arbeitslosigkeit zu finden, die auf sozialem Ausgleich, Kaufkraftsteigerung in den unteren Einkommenschichten oder einer Neuverteilung von Arbeit durch Arbeitszeitverkürzung basieren. Das heißt auch, wieder ein Bild von einem Staat zu zeichnen, der sich nicht in einer permanenten Rückzugsposition befindet, sondern die Verheißung, die Lebensbedingungen seiner Bürger und Bürgerinnen aktiv zu verbessern, hochhält. Denn Fragen von Ungleichheit und Verteilung – so haben wir es im langen Prozess der Demokratisierung gelernt – sind in sozialen und politischen Arenen, in der Auseinandersetzung unterschiedlicher Interessen, zu lösen.

Fairness und Wohlstand

Wir müssen uns die Frage stellen, ob wir in einer Welt leben wollen, in der Handelsangestellte von ihrem Vollzeiteinkommen das nicht können. Es geht also um normative Konzepte von Fairness und wie ausreichend erwirtschafteter Wohlstand innerhalb einer Gesellschaft verteilt sein soll. Diese Themen müssten Gewerkschaften und politische Parteien zurück auf die Tagesordnung bringen. Es wäre an der Zeit, die Lohnspreizung entlang von Branchen und noch viel stärker, aber damit verbunden, nach dem Geschlecht zu verringern und Niedriglöhne für alle zu heben, Arbeitsplätze zu schaffen und die Wirtschaft wieder zur Dienerin des Menschen zu machen.

Eines sollte jedenfalls klar sein: Überlässt man jenen die politische Entscheidungsmacht, die Themen sozialer Gerechtigkeit und Verteilungsfragen rein durch den Blick ihres Rechenschiebers zu beantworten suchen, lauern die menschenverachtenden Konsequenzen an der nächsten Ecke. (Franz Astleithner, 29.6.2016)