Wählen in der Osttürkei: Vor einem Wahllokal patrouillieren Soldaten.

Foto: Cengiz Kulaç

Am 1. November wurde in der Türkei gewählt. Die islamisch-konservative AKP kommt laut den vorläufigen Ergebnissen auf 49,40 Prozent der Stimmen – nach 40,9 Prozent bei der Wahl im Juni. Doch von einer demokratischen Wahl kann nicht die Rede sein, wenn Parteien daran gehindert werden, einen Wahlkampf zu führen, und die Medienberichterstattung eingeschränkt wird. Das Wahlergebnis ist zudem bitter für Frieden und Demokratie in der Region und ein Armutszeugnis für Europas Regierungen, die das Wahlergebnis sogar begrüßen und über den Verdacht auf Wahlfälschungen hinwegsehen.

Vor wenigen Wochen erst starben in Ankara mehr als 100 Menschen bei einem Anschlag auf einen Friedensmarsch der Partei der demokratischen Völker (HDP) und Gewerkschaften. Im Juli gab es einen brutalen Anschlag in Suruҫ auf eine sozialistische Jugendorganisation mit mehr als 30 Toten. Nach solchen Geschehnissen geht man nicht zur Tagesordnung über. Die HDP konnte keine Kundgebungen, das heißt Wahlversammlungen, abhalten, was die dominante Form türkischer Politik ist. Die türkische Politik befindet sich in einer Gewalt- und Repressionsspirale, deren Ende wohl kaum durch eine absolute Mehrheit für eine rechtskonservative Regierung unter Erdoğan eingeläutet wird.

Klima der Gewalt

Präsident Recep Tayyip Erdoğans Strategie ging auf. Gekonnt band die AKP-Regierung der HDP einen Strick, um für sich eine Mehrheit zu erlangen, indem die HDP aus dem Parlament fallen sollte. Nach derzeitigem Stand hat die HDP knapp die Zehnprozenthürde geschafft. In einem Klima der Gewalt zog die Regierung Sicherheitszonen auf und sprach Ausgangsperren aus. Obwohl von Premier Ahmet Davutoğlu verurteilt, wird das Bild der Leiche, die an einen Polizeipanzer gebunden durch die Straßen von Sirnak geschleift wurde, vielen nicht aus dem Kopf gehen. Am Ende konnte man dem linken kurdisch-türkischen Wahlbündnis HDP sogar in den mehrheitlich kurdischen Gebieten teilweise Stimmen abgraben und durch den harten militaristischen Kurs nationalistische Wähler aus dem Lager der rechtsextremen MHP gewinnen.

Dennoch ist derzeit nicht von einem großangelegten, zentral gesteuerten Wahlbetrug in der Türkei auszugehen. Das ist aber nicht gleichbedeutend mit der Tatsache, dass die vielen gröberen Unregelmäßigkeiten und mutmaßlichen Wahlfälschungen nicht erwähnenswert sind. Sie sind Grund genug, empört zu sein. Niemand geht gerne – wie in der Region Bitlis beobachtet – unter Militärpräsenz zur Wahl. Niemand betritt gerne ein Wahllokal, in dem Polizei ein- und ausgeht. Wer wählt ohne Druck, wenn ein Panzer vor dem Wahllokal steht und Soldaten oder Milizen patrouillieren? Der Verdacht auf Wahlfälschungen reicht von Fahrzeugen ohne Kennzeichen vor Wahllokalen über vorgestempelte Wahlzettel, doppelte Stimmabgabe und Stimmabgaben von nicht gemeldeten Wählern bis zur Behinderung von Wahlbeisitzern in Wahllokalen.

Und Europa?

Europas konservative Eliten, in deren Werteverständnis ostwärts alle beginnend am Balkan zivilisatorisch unterentwickelt sind, begrüßen das Wahlergebnis. Während vor Jahren noch Menschenrechte als Feigenblatt dienten, um die Türkei auf Distanz zum Zentrum europäischer Politik zu halten, gibt es heute bloß geringfügige Probleme, über die man auch ein wenig diskutieren müsse. Kurden, die in der Osttürkei unter permanenter Militärpräsenz leben müssen, Orte, wo aufgrund des politischen Klimas der Tod um die Ecke lauert, Verhaftungen von Rechtsanwälten, Medienrazzien, politische Gegner und Journalisten, die eingesperrt werden, all dies ist kein großes Thema.

Der EU und ihren Mitgliedsstaaten geht es derzeit rein um das schmutzige politische Geschäft, Flüchtlinge loszuwerden. Und dafür scheint man bereit zu sein, jeden Preis zu zahlen. In diesem Pingpongspiel ist Erdogan ein Fixstern am Firmament der europäischen Abschottungspolitik. Er ist aber nicht das Schaf, das von der europäischen Politik vor sich hergetrieben wird, sondern der Wolf, der auf seine Chancen wartet. Wie die Faust aufs Auge passt daher die Zurückhaltung der traditionell im Oktober veröffentlichten Zwischenstandsberichte über EU-Beitrittkandidaten. Demokratie, Pressefreiheit und Rechtsstaatlichkeit stehen nun einmal nicht hoch im Kurs, wenn sie die eigenen Interessen behindern.

Ein Funke Hoffnung

Das deutliche Wahlergebnis zeigt trotz Unregelmäßigkeiten: Der psychologische Faktor, die Repression vor und während der Wahl waren das entscheidende Momentum. Dass die HDP es knapp ins Parlament geschafft hat, ist der Funke Hoffnung am Horizont für Frieden, Demokratie und ein Ende der Gewalt, aber kein Garant dafür. Denn nun kann die AKP-Regierung mit ihrer zurückgewonnenen absoluten Mehrheit tun und lassen, was sie will. Wie die europäischen Regierungen in den nächsten Jahren sich der AKP-Türkei gegenüber verhalten werden, wird darüber entscheiden, in welche Richtung sich nicht nur der Nahe Osten entwickelt, sondern wohin ganz Europa sich entwickelt. (Cengiz Kulaç, 4.11.2015)