Philip Reeve: "Mortal Engines. Krieg der Städte"
Klappenbroschur, 334 Seiten, € 12,40, Fischer Tor 2018 (Original: "Mortal Engines", 2001)
Der Countdown beginnt: Am 13. Dezember läuft Peter Jacksons jüngstes Geschoss "Mortal Engines" an. Rechtzeitig zum Kinostart bringt der Verlag Fischer Tor noch einmal den 2001 im Original erschienenen und 2008 erstmals auf Deutsch veröffentlichten Roman des Briten Philip Reeve heraus, auf dem der Film beruht. Die weiteren drei Bände der ursprünglichen Tetralogie folgen in den nächsten Monaten, Teil 2 bereits in Kürze. Wer danach noch tiefer in die Steampunk- oder eigentlich Dieselpunk-Welt der "Mortal Engines" eintauchen will: Eine Prequel-Reihe dazu hat Reeve auch schon geschrieben. Und wer das Thema an sich faszinierend findet, kann sich als Ergänzung auch gleich Will McIntoshs Kurzgeschichte "City Living" aus dem Jahr 2015 auf den E-Reader laden.
Räuberische Amöben aus Stahl
Es war ein dunkler, böiger Nachmittag im Frühling, und im ausgetrockneten Bett der Nordsee eröffnete London die Jagd auf eine kleine Schürferstadt. [...] Zehn Jahre hatte es sich versteckt, in einer nasskalten Hügellandschaft weit im Westen, die nach Auskunft der Historikergilde einst die Insel Großbritannien gewesen war. – Das ist natürlich eine verheißungsvolle Einleitung für einen Roman, und ohne Verzögerung werden wir damit in eine Welt katapultiert, in der Städte auf Raupenketten und Rädern durch die Lande rollen, einander auflauern und mit gigantischen metallenen Kiefern ihre Beute packen.
Wir befinden uns in einer fernen Zukunft, Jahrtausende nach dem mit ABC-Waffen geführten Sechzig-Minuten-Krieg. Dass die Städte, die diese Apokalypse überstanden, anschließend mobilmachten, hatte ursprünglich sogar einen Sinn, wie wir noch erfahren werden. Inzwischen ist das Ganze aber längst zu einem globalen Ökosystem voller riesiger mechanischer Amöben verkommen, die einander die letzten Ressourcen streitig machen, wenn sie nicht überhaupt gleich zur Direkt-Ausschlachtung des Gegners schreiten. Es war nur natürlich, dass Großstädte kleine Städte fraßen, dass Kleinstädte Dörfer verschlangen und sich Dörfer an statischen Siedlungen gütlich taten. Das war der Städtedarwinismus.
Dramatis Personae
Hauptfigur Tom Natsworthy, ein 15-jähriger Museumsgehilfe der Londoner Historikergilde, findet diese Lebensweise übrigens grundsätzlich richtig. Erst nach und nach wird er im Verlauf des Romans seine Haltung zu überdenken beginnen – aber dafür braucht es auch eine transkontinentale Queste und eine Reihe von Schlüsselerlebnissen mit Menschen, denen er vertraut und die ihn umgehend aufs Übelste enttäuschen.
Zugleich steht Tom gewissermaßen im Mittelpunkt eines weiblichen Dreiecks, gebildet aus: 1) Katherine Valentine, einer Tochter aus begüterten Verhältnissen, die sich vom Prunk des reichen London aber nicht blenden lässt und bald auch das Dickens'sche Elend in dessen maschinellem Unterbauch kennenlernt. 2) Anna Fang, einer kampfgestählten Aeronautin, die die ortsgebundenen Städte Ostasiens gegen die Beutezüge der westlichen Traktionsstädte verteidigen will. Und vor allem 3) Hester Shaw, einer entstellten jungen Frau, die zur wichtigsten Gefährtin Toms auf seiner Queste wird. Auch wenn er ihre Rachepläne zunächst nicht unterstützen will.
Auf der Seite der Erwachsenen hätten wir dann noch Thaddeus Valentine, Katherines Vater und Toms Historiker-Idol – zugleich aber auch der Mann, den Hester töten will, weil er ihre Eltern ermordet haben soll. Magnus Crome, den zwielichtigen Oberbürgermeister Londons, der seine Stadt durch eine neue Superwaffe zur Beherrscherin der Welt machen will. Und schließlich Shrike, eine Art Steampunk-Terminator, den Crome auf Tom und Hester ansetzt (zu meiner Überraschung wird er im Film nicht von Andy Serkis verkörpert werden). All diese Figuren werden wichtige Rollen in Zusammenhang mit Cromes ominösem Projekt MEDUSA spielen, Spannung ist garantiert!
YA, aber nicht auf die simple Art
Die "Mortal Engines"-Tetralogie läuft offiziell unter "Jugendbücher", was aber recht großzügig aufzufassen ist. Young-Adult-typisch sind sicherlich das Alter der Hauptfiguren und die persönliche Entwicklung, die speziell Tom vollzieht. Anfangs glaubt er noch, dass in der Welt alles einer gerechten Ordnung folgt, bis er – Das war doch nicht fair! – gegenteilige Erfahrungen macht und gezwungen ist, das System, in dem er aufgewachsen ist, zu hinterfragen.
Die in YA-Literatur häufige Schwarz-Weiß-Zeichnung der Figuren findet sich bei Reeve allerdings nicht ... was erneut Tom am eigenen Leib erfahren muss. Er idealisiert den großen Thaddeus Valentine – bis der ihn ansatzlos in einen Abfallschacht schubst, weil er ein lästiger Zeuge ist. Immer wieder wird Tom in der Folge Menschen begegnen, deren äußerer Anschein nicht mit ihren tatsächlichen Handlungen übereinstimmt. So ist der Bürgermeister eines rollenden Dorfs, das den heimatlos gewordenen Tom aufnimmt, ein vollkommen freundlicher Zeitgenosse – verkauft Tom aber in die Sklaverei, wofür er sich mit den "harten Zeiten" entschuldigt. Ein blutrünstiger Pirat, der eigentlich keinerlei Skrupel kennt, behandelt Tom hingegen äußerst zuvorkommend. Viele der Figuren in "Mortal Engines" bewegen sich in einem spannenden Graubereich.
Vorfreude auf den Film
Und gar nicht YA-kompatibel scheint der Grad an Gewalt. Für ganz junge Leser ist das Buch wohl zu blutig – tote Kinder, Hunde und Hauptfiguren inklusive. Wird interessant sein zu sehen, wie die Kinoadaption damit umgeht, immerhin sind Hollywoodfilme ein wesentlich unfreieres Genre als Literatur.
Und apropos: Liest man "Mortal Engines", dann merkt man, dass es sich für eine Verfilmung geradezu aufgedrängt hat. Abgesehen vom Schauwert des Grundszenarios rollender Städte findet man hier von Beginn weg Passagen, die sich 1:1 in eine wirkungsvolle Szene umsetzen ließen, so optisch ist Reeves Stil. Inklusive sogenannter Money-Shots, etwa wenn sich die Kuppel der St. Paul's-Kathedrale öffnet, um eine Strahlenkanone zu enthüllen. Und dankenswerterweise stellt Reeve auch gleich eine ganze Reihe von Onelinern und Dialogen bereit, die Witz haben. Der Qualitätsunterschied zwischen der "Herr der Ringe"- und der "Hobbit"-Trilogie hat ja gezeigt, dass es durchaus hilfreich ist, wenn Peter Jackson auf O-Töne zurückgreifen kann, anstatt sich alles selbst ausdenken zu müssen ...