Sergej Snegow: "Menschen wie Götter"
Broschiert, 991 Seiten, € 10,30, Heyne 2010.
Zu Recht wiederveröffentlicht - und zu Recht nicht in der verlagseigenen Reihe "Meisterwerke der Science Fiction" - wurde nun Sergej Snegows bombastische russische Space Opera "Menschen wie Götter". Ursprünglich als Trilogie in den Jahren 1966 bis 1977 erschienen, ergibt sie in der Gesamtausgabe einen fast 1.000 Seiten langen Wälzer, der alles enthält, was man sich nur wünschen kann. Und auch das eine oder andere ... andere. Neue Naturgesetze, metallene Planeten, Raumgefechte, die mit Gravitationswellen ausgetragen werden, planetares Schlachtengetümmel mit gentechnisch gezüchteten Drachen und Pegasussen, Aliens, die wie der "Muppet Show" entfleucht wirken, und Göttern gleichende uralte Wesen, die den Aufbau der Milchstraße umgestalten - hier findet sich alles.
Stürzen wir uns in ein vergnügtes und nur manchmal von all den Erfindungen und Entdeckungen leicht übersättigtes Utopia des 26. Jahrhunderts, gut 500 Jahre nach dem weltweiten Triumph des Kommunismus. Die Erde ähnelt der (schriftstellerisch um einiges ergiebigeren) Welt des Mittags von Snegows berühmten Landsmännern, den Gebrüdern Strugatzki - ohne allerdings deren melancholische Züge zu teilen. Hier weht allenthalben der Wind des Optimismus, veranschaulicht an einer Clique ehemaliger SchuldfreundInnen, die zu den durchgängigen ProtagonistInnen des Mammutwerks werden: Gleich zu Beginn schwebt Lussin auf einem von ihm gezüchteten Drachen über dem Kilimandscharo ein, André führt ein multinsensorisches Konzert zu Ehren des Universums auf - und Ich-Erzähler Eli, der von Berufs wegen künstliche Sonnen über dem Pluto montiert, freut sich darauf, mit seiner Flugmaschine durch die Blitze eines künstlich in die Hauptstadt geschleppten Feiertagsgewitters zu sausen. Menschen wie Götter, in der Tat. Und sie leben in einem bestens organisierten Paradies: Das Erdachsenkontrollzentrum sorgt für genehmes Wetter, die Computer der Staatsmaschinenadministration lenken die Infrastruktur. Snegow entwarf sogar - immerhin schon Mitte der 60er - so etwas wie vernetzte Kommunikation; auch wenn die nur mit der Zentralen Personendatenmaschine und den von ihr projizierten "Beschützerinnen" möglich ist, nicht direkt zwischen einzelnen Menschen. - Alles in allem ist es ein sorgloses Zeitalter ohne Unfälle oder Konflikte. Dazu passt der sympathische Umgang der Romanfiguren miteinander - man herzt und küsst sich in nahezu kindlicher Unbeschwertheit am laufenden Band.
Der Abgrund beginnt dann aufzuklaffen, wenn's zur Begegnung mit Außerirdischen kommt. Etwa auf der Scheibenwelt Ora, die man extra deshalb weitab der Erde künstlich angelegt hat, weil sie ein Ort der Begegnung für alle Spezies sein soll. Allerdings leuchtet die Kunstsonne über ihr in einem 24-Stunden-Rhythmus inklusive Mondphase ("damit die Menschen nicht auf Gewohnheiten verzichten müssen, die ihnen seit Anbeginn ihre Existenz selbstverständlich sind"), und die Atmosphäre entspricht natürlich der irdischen - die anderen Völker wurden in hermetisch abgeschlossene "Herbergen" gestopft. So ist sie, die Ora! schwärmt Eli. Wenn die Alien-Delegationen dann der Reihe nach in ihren künstlichen Biotopen von Eli & Co besucht werden, erinnert das im Ablauf nicht zu knapp an einen Ausflug in den Zoo - und beflissen versichern die Aufgesuchten: "Uns geht es hier ausgezeichnet. Wir werden unserem Volk berichten, wie gut und mächtig die Menschen sind." - Das ist der Anfang, aber bei weitem nicht das Ende einer gedankenlosen Gönnerhaftigkeit, die den Ton des Romans prägen wird und streckenweise a-t-e-m-b-e-r-a-u-b-e-n-d-e Ausmaße annimmt. Dass die osteuropäische Science Fiction insgesamt weniger geil auf Sternenkriege war als die westliche, ist im Prinzip ein begrüßenswerter Gegenentwurf. Wenn der Harmoniegedanke aber Formen wie hier annimmt, muss man umgekehrt auch feststellen, dass ein Konfliktszenario - wenngleich allzuoft simplifiziert dargestellt - dem Anderen wenigstens eigene Zielsetzungen einräumt. Bei Snegow, der den Aliens und ihren Planeten nicht mal eigene Namen gibt, sind die Außerirdischen nichts anderes als Claqueure, die die Entwicklungshilfe vom Großen Bruder Erde beklatschen. Offenbar ist ihnen seit ihrer evolutionären Entwicklung nichts Besseres eingefallen, als doof auf ihren Planeten herumzuhocken, bis die Menschen eingeflogen sind und ihnen das Leben leichter gemacht haben (Schutzräume gegen starke - natürliche! - Strahlung zu bauen, wie hätten sie da auch selbst drauf kommen können ...). Mit der Spezies der Zerstörer, die Snegow für den Spannungsbogen in Teil 1 und 2 als Gegner der Menschheit aufbaut, legt sich doch noch jemand quer - aber keine Angst, die werden früher oder später schon noch auf Linie gebracht werden.
Elis Freund, der Hardliner Pawel Romero, argumentiert unverblümt, dass "hässliche" und "ästhetische" Formen vernunftbegabten Lebens nicht gleichberechtigt sind - der Widerspruch des "toleranten" Eli fällt verhalten aus ... und ist nicht unwesentlich davon beeinflusst, dass er sich gerade in das Schlangenmädchen Viola von der Wega verguckt hat (menschlicher Oberkörper auf reptilischem Unterkörper - sie werden nicht lange genug zusammen sein, dass er sich wünschte, es wäre umgekehrt). Apropos Schlangen: Ähnlich wie Ivan Efremov ("Das Herz der Schlange") lässt Snegow seine Charaktere amüsiert-angeekelt auf Zeiten und Welten herabblicken, in denen man noch handgreiflich wurde/wird - auf der Erde gilt Gewalt schließlich schon lange nicht mehr als Argument. Unmittelbar nachdem das gesagt wurde, schütteln die Erdlinge einen unhöflich auftretenden außerirdischen Botschafter mal eben kräftig durch - worauf der sich umgehend unterwirft und sich ihnen für den Rest des Buchs als treuer Gefährte anschließt. Und als er sich verächtlich über eine Drittspezies äußert, fährt man ihm über den Mund: "Und wir erlauben auch nicht, sie als niedere Rasse zu betrachten." - Einige Zeit zuvor wurde nüchtern konstatiert: "Unsere Sternennachbarn sind primitiver als wir, das ist eine Tatsache."
Diese permanenten Widersprüche kommen manchmal in so unmittelbarer Folge aufeinander, dass sich mit der Zeit die Frage aufdrängt, ob man es mit einer Satire zu tun hat. Als ob Snegow, der unter Stalin wegen angeblicher politischer Verfehlungen zehn Jahre im Arbeitslager verbracht hatte, austesten wollte, wie weit man gehen kann, wenn man das System karikiert. Dafür sprechen harmlose kleine Spitzen gegen die vermeintliche Unfehlbarkeit der Staatsmaschinen oder der Wetterkontrolle, mehr noch aber Szenen, die einfach nicht ernst gemeint sein können: Etwa wenn Eli sich fern der Heimat nach den Delikatessen der Erde sehnt ("der butterzarte rosa Schinken aus kondensierten Brenngasen oder saftige Sahnetorten aus den Erdölraffininerien"), nachdem sich die selbstverständlich längst vegetarisch lebenden ErdenbürgerInnen zuvor unter dem Rinderdenkmal mit der Aufschrift "Dem Ernährer des Menschen in ewiger Dankbarkeit!" versammelt hatten. Der Roman quillt nämlich geradezu über vor Pathos, etwa wenn die Menschheit von der großen interplanetaren Solidaritätseuphorie ergriffen wird und sich komplett in den Dienst der neuen Sache stellt: "Wir bauen Planeten für jede Lebensform!" - Nach dieser gerafften Darstellung würde wohl jeder sagen: Na logo ist das 'ne Satire auf Polit-Propaganda. Dagegen spricht aber auch einiges. Die menschliche Besserwisserei wird sich nämlich in Teil 2 und 3, runtergebrochen auf die individuelle Ebene, 1:1 in den flammenden Ansprachen Elis fortsetzen, mit denen er noch den verbissensten Kontrahenten schneller überzeugt als durch eine Gehirnwäsche.
Die Handlung selbst ist wie gesagt prall und spielt sich streng genommen nicht immer innerhalb der Grenzen der Science Fiction ab. Da liefern einander unsichtbare Knochenmänner und fliegende Pferde Schlachtengetümmel, wie sie Philip José Framer nicht bunter hätte schildern können. Die riesigen Sternenpflüge der Menschheit reisen, indem sie - coole Idee! - Raum in Materie umwandeln und auf ihrem Weg durch die Galaxis gleichsam Kondensstreifen hinterlassen, aus denen man ganze Welten bauen kann. Noch fantastischer die von Eli bzw. Snegow entdeckten Raumwellen (nicht gleichbedeutend mit dem entsprechenden Begriff aus dem Elektromagnetismus), die die Lichtgrenze weit hinter sich lassen: Im Goldenen Zeitalter der Science Fiction ließen sich Naturgesetze eben nicht nur ignorieren, sondern auch ganz neue erfinden - auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs ersann beispielsweise Jack Williamson den "Rhodomagnetismus" als verbesserte Variante des Elektromagnetismus. Im dritten Teil von Snegows Roman wird dann noch ähnlich wie zuvor mit dem Raum fröhlich Schindluder mit der Zeit betrieben.
Wer gerne auf Amazon nachschaut, wie ein Buch bei den LeserInnen ankommt, wird hier auf ein überwältigend positives Feedback stoßen. Allerdings heißt's auch genau lesen. Viele, die für "Menschen wie Götter" schwärmen, führen ihre Jugenderinnerungen als Grund an - denn das seinerzeit in der DDR veröffentlichte Buch befand sich mangels Konkurrenz durch andere Space Operas in der privilegierten Lage, ein offenbar überall populäres Thema nahezu alleine abzudecken. - Für LeserInnen aus einer jüngeren Generation, die jetzt in eine Buchhandlung gehen und einfach nur nach einer neuen Space Opera suchen, ist dies eher nicht der optimale Griff. Doch bleibt "Menschen wie Götter" aus einer Vielzahl anderer - unter anderem historischer - Gründe ein lohnenswertes Leseerlebnis. Und sogar eines, das Vergnügen machen kann, wenn man den ProtagonistInnen nur mit ein wenig Distanz ins Gewühl folgt: "Wir durften die Schreie der Unterdrückten und Verfolgten nicht einfach ignorieren! Unsere revolutionären Vorfahren hätten niemals so egoistisch gehandelt. Warum sollten wir schlechter sein als sie?"