In der Geometrie ist die Sache klar: Parallel sind zwei Geraden dann, wenn sie einander nicht schneiden. Wenn sie also nebeneinander herlaufen, ohne sich je näherzukommen, es sei denn in einem projektiven Raum, "im Unendlichen".

Einander ähnlich oder gar gleich, aber doch für immer getrennt: Ein solches Bild ist auf demokratische Gesellschaften nicht übertragbar. Vielmehr startete das Reden über Parallelgesellschaften in der realen, europäischen Welt der Politik und der Emotionen just zu dem Zeitpunkt, als die Einwanderung ein (von der Mehrheitsgesellschaft) nicht mehr zu ignorierendes Maß angenommen hatte - als es eigentlich ums Einander-Näherkommen gehen musste.

Ein Schelm, wer Böses dabei denkt, wer den Antrieb für die Rückgriffe aufs Geometrische nicht allein "rückständigen", dickköpfigen Migrantenmilieus, sondern auch dickköpfigen, verschlossenen Hiesigen anlastet, wobei hier erschwerend noch ein allzu menschliches Phänomen hinzukommt: jenes der Projektion, also des Übertragens unliebsamer eigener Eigenschaften auf die weitgehend unbekannten Anderen. Das nämlich ist ein Fluch jeder Parallelität: dass man einander, wenn überhaupt, erst am Sankt-Nimmerleins-Tag näherkommen wird. (Irene Brickner, DER STANDARD, 8.10.2013)