Soziologe Yıldız: "Die sogenannten Parallelgesellschaften tragen zur modernen Urbanität bei, das sollte betont werden."

Illustration: Andrea Maria Dusl/http://www.Comandantina.com

STANDARD: Viele Menschen haben Angst vor sogenannten Parallelgesellschaften von Einwanderern. Woher kommt diese Furcht?

Yıldız: Der Begriff Parallelgesellschaft ist eine wissenschaftliche Erfindung. Im deutschsprachigen Raum hat er erst in Wahlkämpfen ums Ausländerthema so einen negativen Beiklang bekommen. Im englischsprachigen Raum gibt es diese Ablehnung hingegen nicht. Das liegt wohl am anderen nationalen Selbstverständnis klassischer Einwanderungsländer wie den USA oder Kanada. Dort werden Stadtteile wie Chinatown und Little Italy eher als Bereicherung und als normaler Teil der Cities gesehen. Doch auch in Europa fördern Gesellschaften, die sich selbst als anders definieren, die urbane Vielfalt. Man denke nur an die alternative Freistadt Christiania im dänischen Kopenhagen. Im Grunde sind die sogenannten Parallelgesellschaften also normale, menschliche, städtische Phänomene, die erst Ende des 20. Jahrhunderts in Verruf gekommen sind.

STANDARD: Das jedoch so sehr, dass heute versucht wird, ihre Entstehung von vornherein zu verhindern. Migranten sollen sich stattdessen "integrieren", sich in die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse einfügen. Warum?

Yıldız: Weil die sogenannten Parallelgesellschaften als Abweichung von der einheimischen Norm verstanden werden. Die Angst vor ihnen ist Angst vor einer rechtsfreien Zone: Es wird vermutet, dass die Lebensweisen in solchen Gemeinschaften nichts mit jenen der Einheimischen zu tun haben, und man befürchtet dadurch eine Unterwanderung der herrschenden Verhältnisse. Das wird dann meistens in Form der Warnung vor sogenannter Überfremdung ausgedrückt.

STANDARD: Aber leben wir nicht alle in irgendeiner Form in einer Parallelgesellschaft, einfach dadurch, dass wir uns in einem bestimmten Milieu bewegen?

Yıldız: Dazu würde ich lieber "Parallelwelten" sagen, das ist der bessere Begriff. Parallelwelten gibt es quer durch alle Gesellschaftsschichten. Bei der Kritik an der sogenannten Parallelgesellschaft hingegen geht es meistens um oben und unten, um Verachtung der sozial Schwächeren. Hier herrscht eine starke Doppelmoral: Reiche Bezirke werden nie als Parallelgesellschaften bezeichnet, wiewohl es genug Anlässe gäbe: Viele Uno-Mitarbeiter, Diplomatenfamilien und Großverdiener müssen in ihrem Umfeld nie Deutsch lernen. Ihre Kinder gehen in internationale, englisch- oder französischsprachige Privatschulen. Es gibt also Gesellschaften, die sind noch viel mehr parallel, aber da kommt keiner auf die Idee, das zu kritisieren.

STANDARD: Heißt das, dass soziale Konflikte durch den Kampfbegriff "Parallelgesellschaft" in ethnische verwandelt werden?

Yıldız: Dieses schielende Unterscheiden zwischen Migranten und Nicht-Migranten ist typisch. Wenn Österreicher Knoblauch essen und ihre Familie besuchen, nennt man das gesund und lobt den Familienzusammenhalt; wenn es Migranten tun, ist es deren Mentalität und angebliches Sippendenken. Wenn autochthone Österreicher im Grätzel Kontakte pflegen, dann ist das gute Nachbarschaft und sozialer Zusammenhalt. Wenn es Migranten tun, dann handelt es sich um sogenannte Parallelgesellschaften.

STANDARD: Aber leisten migrantische "Parallelgesellschaften" nicht auch einiges?

Yıldız: Sie verhindern, dass bestimmte Stadtteile - Arbeiterbezirke oder Industriegegenden - verwahrlosen, wie sie es ohne Migranten wohl tun würden. Die sogenannten Parallelgesellschaften werten derlei Gegenden unheimlich auf - beispielsweise durch Gastronomie und Handel, der dort durch die Migranten angetrieben wird. Von außen glaubt man - und so wird es auch von Politik und Medien transportiert -, dass es sich hier um einen Abstieg der betroffenen Gegenden durch Einwanderung handelt, aber das Gegenteil ist der Fall: Die sogenannten Parallelgesellschaften tragen zur modernen Urbanität bei, das sollte dringend stärker betont werden.

STANDARD: Um die Gefahren durch sogenannte Parallelgesellschaften zu belegen, werden oft Geschichten von Migranten erzählt, die nach 30 Jahren in Österreich kaum Deutsch sprechen. Muss man diese Menschen kritisieren?

Yıldız: Es gibt viele Mythen in diesem Bereich. Die Mehrheit der Einwanderer spricht ohnehin Deutsch - die zweite und dritte Generation auf alle Fälle. Über die erste Generation kann man diskutieren, aber man sollte nicht vergessen, dass bei ihnen Deutschlernen oft gar nicht gewünscht war. Sie sollten fleißig arbeiten, das war das Wichtigste. Es handelt sich hierbei also um ein hausgemachtes Problem - und als solches sollte man es ehrlicherweise auch bezeichnen. (Olja Alvir, DER STANDARD, 8.10.2013)