Wien - "Wien bleibt Wien, und das geschieht ihm ganz recht", schrieb Hans Weigel 1935 in süffisanter Anlehnung an einen Schrammel-Marsch aus dem 19. Jahrhundert. Heute ist die allgemeine Befürchtung, dass Wien nicht Wien bleiben könnte. Gar als bedroht erachten manche die Stadt, weil in den kommenden 15 Jahren rund eine Viertelmillion neuer Bewohner erwartet wird und also große Veränderungen anstehen. Für sie muss Wohn- und Arbeitsplatz geschaffen werden, und dafür wachsen nicht nur an den Stadträndern immer höhere Bauten in den Himmel.

"Das Lachen wird uns noch vergehen, wenn unsere Jungen die Neubauten mit Zwischenwänden, ausgekleidet mit Baukarton, hinterfüllt mit Altpapierschnitzeln und mit flüssigem Beton verfestigt, bewohnen werden", schreibt Margret Wenzel-Jelinek in der Einleitung ihrer Bilddokumentation "Wien wertvoll. Bedroht und behütet".

Aber nicht nur die Plattenbauten, "die wir früher kilometerlang in Brünn gesehen und belächelt haben", sind der Fotografin Symptome für den Untergang des Wiener Abendlandes, auch EU-Richtlinien, Hundekot, Fußballkäfige für "wilde junge Menschen" und dass die Ringstraße am autofreien Tag für Bewohner, "die anscheinend alle Zeit der Welt haben", zum Picknicken gesperrt wird, stößt Wenzel-Jelinek sauer auf.

Eine Verpflichtung gegenüber dem Erbe

30 Jahre lang fotografierte die gebürtige Boznerin ihre Wahlheimat Wien, und eine Zusammenschau der Bilder steht nun in "Wien wertvoll" neben Textbeiträgen einer illustren Auswahl an Autoren und Fachleuten. Architekt Gustav Peichl, Musikwissenschafter Otto Brusatti, Verkehrsexperte Hermann Knoflacher und Klimaforscherin Helga Kromp-Kolb geben neben anderen Denkanstöße zur Zukunft der Stadt.

Sie thematisieren auch die "Wurschtigkeit, mit der man so mancher Verschandelung der Stadt begegnet", wie es Gerda Schaffelhofer, die Leiterin des Verlags Styriabooks, bei der Buchpräsentation am Dienstag in Wien ausdrückte.

Dass die Wiener Altstadt mit ihren Kirchen, Palästen, Türmen und Kuppeln seit 2001 ein von der Unesco zertifiziertes Weltkulturerbe ist, sei uns allen eine Verpflichtung, sagt Schaffelhofer. Vor allem die "monströsen Beton-, Glas- und Blechaufbauten, die über alte Strukturen dominieren", bringe dieses Erbe ernstlich in Gefahr, so Wenzel-Jelinek.

Die Pickel auf der Haut der Stadt

Für Knoflacher, ebenso am Podium, ist die physische Erscheinung der neuen Gebäude - "Hochhäuser sind die Pickel auf der Haut der Stadt" - nur ein Teil des Problems. Bedenklicher sei vielmehr, dass Immobilienprojekteure an den lukrativen Brennpunkten, etwa rund um neue U-Bahn-Stationen, nur aufgrund der Vorleistungen der Gesellschaft massiv Kapital akkumulieren können. Eine TU-Studie kam zum Ergebnis, dass so investierte Steuermillliarden im exakt selben Ausmaß den Geldbörsen der Privatinvestoren zugeführt werden. "Dafür ist die seit Jahrzehnten geforderte Ausgleichsabgabe notwendig", sagt Knoflacher.

Der zweite große Konflikt, den Wien in Zukunft zu bewältigen hat, ist für Knoflacher der Autoverkehr, vor dem sich die konventionelle Stadtplanung noch immer allzu sehr verneigt. Bei aller Schwarzmalerei könne Wien aber als eines der weltweit gelungensten Beispiele für die erfolgreiche Evolution gelten, die jede Stadt als Organismus durchläuft.

Ganz wollte auch Stadtrat Christian Oxonitsch die kulturpessimistische Prämisse des Bildbands nicht unterschreiben. Selbst heute liebgewonnene Bestandteile des Wiener Stadtbildes waren Eingriffe, die anfangs kritisch aufgenommen wurden. Jede Stadt unterstehe einem Wandel, den manche positiv, andere negativ beobachten.

Augenhöhe und Penthouseperspektive

Vor drei Monaten präsentierte Reinhard Mandl ebenfalls ein fotografisches Langzeitprojekt über Wien. Für "Wien.Blicke" zog es ihn sieben Jahre lang in die hintersten Ecken der Bundeshauptstadt, wo er mit seiner Kamera Baustellen im Schneematsch, vergilbte Werbetafeln, Graffiti unter grauen Brücken und wartende Pendler in U-Bahn-Stationen auf Augenhöhe abbildete. Mandl hielt in seiner Straßenfotografie den Alltag der Wiener in Normalsicht fest - die leibhaftige Erfahrung der Stadt.

Wenzel-Jelineks Perspektive ist dagegen die von oben. Was unten in den Straßenschluchten vorgeht, bleibt aus der Penthouseperspektive nur erahnbar. Der breite Blick auf das Wiener Häusermeer, oft von der Wohnung der Fotografin in 70 Metern Höhe aus aufgenommen, ist eine Bestandsaufnahme einer Metropole zur Jahrtausendwende - "und eine Liebeserklärung der Professorin an die Stadt", wie Gerda Schaffelhofer sagt. Eine Liebeserklärung, gleichsam unter schrillen Warnrufen. (Michael Matzenberger, derStandard.at, 23.9.2014)

Foto: Margret Wenzel-Jelinek
Foto: Margret Wenzel-Jelinek
Foto: Margret Wenzel-Jelinek
Foto: Margret Wenzel-Jelinek
Foto: Margret Wenzel-Jelinek
Foto: Margret Wenzel-Jelinek
Foto: Margret Wenzel-Jelinek
Foto: Margret Wenzel-Jelinek
Foto: Margret Wenzel-Jelinek
Foto: Margret Wenzel-Jelinek
Foto: Margret Wenzel-Jelinek
Foto: Margret Wenzel-Jelinek

Zu Buch und Person

Margret Wenzel-Jelinek, geboren in Bozen, begann ihre Karriere als Presse- und Modefotografin und lichtete später als Porträtistin viele österreichische und internationale Politiker ab. Die Nationalbibliothek hat das Bildarchiv Wenzel-Jelinek für ihre Sammlung erworben, das offizielle Österreich zeichnete sie mit dem Staatspreis für Kunst und Wissenschaft aus.

Das Buch "Wien wertvoll. Bedroht und behütet" ist im Styria-Verlag erschienen und für 34,50 Euro im Buchhandel erhältlich.

Foto: Margret Wenzel-Jelinek/Styria Verlag