"Ganz frisch, sehr gute Qualität", sagt ein kleingewachsener Mann im ausgebeulten, braunen Sakko. Er grinst einen männlichen Touristen zahnlos an. In den engen und stark belebten Einkaufsstraßen von Thamel, dem touristischen Zentrum von Nepals Hauptstadt Kathmandu, hält er ihm ein Bild seines "Produkts" auf einem altmodisches Handy vor die Augen. Auf dem pixeligen Display ist nicht viel zu erkennen. Schemenhaft zeichnet sich eine junge Frau mit dunklen Haaren ab.

Auch Muna Nepali wurde wie ein Stück Fleisch feilgeboten. Zwischen Shops für Wanderausrüstungen, Souvenirhändlern und Restaurants befand sich das Bordell, in dem sie zwangsprostituiert wurde. "Als ich 13 war, musste ich mit 25 bis 30 Männern am Tag schlafen. Ich hatte Durchblutungsstörungen, meine Hände waren immer kalt und weiß. Ich habe gedacht, dass das mein Leben ist, dass ich leiden muss", sagt sie. Heute will die junge Frau nicht über ihre Geschichte schweigen. Sie will anderen Menschen zeigen, dass es einen Ausweg gibt aus einem Leben, das sie nicht selbst gewählt haben.

Als Waisenkind und Dalit, Angehörige der untersten Kaste, wurde Muna Nepali Opfer von Zwangsprostitution.
Foto: derstandard.at/Julia Schilly

Nepalis Eltern starben, als Muna sieben Jahre alt war. Ihre Familie gehörte der niedrigsten Kaste an, den Dalits, die in der nepalesischen Gesellschaft als unberührbar gelten. Daher waren ihre Aussichten auf eine gute Arbeit schlecht. Um nicht zu verhungern, wurde sie noch als Kind Haushaltshilfe. Ab diesem Zeitpunkt begannen die Misshandlungen. Die Hausbesitzer schlugen sie, missbrauchten sie psychisch und emotional. Als ihr schließlich ein Mann einen Arbeitsplatz in einem Massagesalon anbot, willigte sie schnell ein. Sie putzte und wurde gut behandelt, zunächst erschien der neue Job als Ausweg.

Doch mit 13 Jahren wurde ihre Jungfräulichkeit verkauft. Unter einem Vorwand wurde sie in ein Zimmer des Massagesalons geschickt, wo ein Mann sie vergewaltigte. "Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, was passiert ist. Aber als ich wieder zu mir kam, war mein Körper voller Blut, alles tat weh", sagt sie. Ab diesem Tag begann die tägliche Prostitution. "Wenn ich sagte, dass ich diese Arbeit nicht machen wollte, wurde ich verprügelt", sagt Muna Nepali.

Prostitution findet in Nepal oft verdeckt statt.
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Die Stimme der Sexarbeiterinnen

Die Rettung kam nach zwei Jahren durch ein Radioprogramm. Bei jeder Gelegenheit hörte das Mädchen Musik, um sich "wegzuträumen", wie sie es beschreibt. Eines Tages hörte sie zufällig die Sendung "Voice of Raksha", die jeden Sonntag für eine Stunde ausgestrahlt wird. Raksha bedeutet Schutz, der Verein setzt sich für Prostituierte ein. Nepali nahm Kontakt auf und wurde aus dem Bordell herausgeholt.

Die treibende Kraft hinter Raksha ist vor allem Menuka Thapa. Die 32-Jährige verlor ihren Vater vor ihrer Geburt, auch ihre Mutter starb früh. Ihr Gesangstalent bewahrte sie wohl vor der Prostitution, ist sie heute überzeugt. Vom Dorf übersiedelte sie mit 15 Jahren in die Großstadt Kathmandu und unterhielt in Clubs und Bars die Gäste mit ihrer Musik. Das ermöglichte es ihr, Musik und Soziologie zu studieren. In den Lokalen traf sie nachts unzählige Mädchen, die psychisch, körperlich und finanziell ausgebeutet wurden. Thapa begann diese Frauen zu beraten. In ihrem eigenen kleinen Zimmer unterrichtete sie viele Prostituierte im Lesen und Schreiben. Die Frauen trafen sich auch, um sich von Menuka Thapa Zeitungen vorlesen zu lassen. Dadurch erfuhren sie erstmals, was im Land vor sich ging.

Menuka Thapa auf der Veranda des Raksha-Kinderheims. Seit vielen Jahren kämpft sie unermüdlich für eine Verbesserung der Situation von Sexarbeiterinnen in Kathmandu.
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"Ich wurde in meinem Heimatdorf beschuldigt, dass ich am Tod meines Vaters schuld bin, obwohl ich noch nicht einmal geboren war. Ich wurde also früh damit konfrontiert, wie unterdrückt Frauen in unserer Gesellschaft sind", berichtet Thapa von ihrem Antrieb. Mit erst 21 Jahren gründete sie schließlich Raksha, um den Frauen eine Anlaufstelle zu bieten. "In zehn Jahren haben wir 1.600 Frauen und 275 Kindern geholfen", sagt Thapa. Dazu gehören psychologische und medizinische Betreuung, Rechtshilfe oder Ausbildungen.

Ein Zuhause statt eines Lebens auf der Straße

Zentrales Herzstück von Raksha ist jedoch das Kinderheim, in dem auch Menuka Thapa und Muna Nepali leben und das Büro von Raksha betreiben. Die Kinder der Sexarbeiterinnen können dort temporär oder langfristig untergebracht werden und landen nicht mehr auf der Straße. Rund um das Gebäude dröhnen den ganzen Tag Presslufthammer, alles rundherum ist Baustelle. Dutzende Kinder leben hier in drei hellen Räumen in Stockbetten. Jedes Kind besitzt nur eine Metallkiste, in der private Gegenstände sind. Doch es ist besser als das Leben auf der Straße. Das Raksha-Haus ermöglicht zum einen einen regelmäßigen Schulbesuch, andererseits bietet es Sicherheit und Geborgenheit für die Kinder, die bereits viel erlitten haben.

Viel Privatsphäre gibt es im Kinderheim nicht. Doch die Kinder erfahren dort Sicherheit und Geborgenheit.
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Auch Muna Nepali fand in Menuka Thapa eine Ersatzmutter: "Da war das erste Mal jemand, der mich liebt. Ich musste erst lernen, wie ich mit Menschen umgehe." Als sich die Wege der zwei Frauen kreuzten, begann ein neues Leben für die heute 19-Jährige. Sie bekam medizinische und psychologische Betreuung. Zudem kann sie nun die Schule nachholen.

Keine Bildung, kein Ausweg

Doch nicht nur Zwang führt viele Frauen in die Prostitution, oft fehlen schlicht die Perspektiven. Viele Sexarbeiterinnen stammen aus ländlichen Gegenden, aus denen sie wegen des langjährigen Bürgerkriegs, der 2006 endete, vertrieben wurden. Nur rund 45 Prozent der Nepalesen sind alphabetisiert, Mädchen haben seltener Zugang zu Bildung. Laut Human Development Index der Vereinten Nationen, einem Wohlstandsindikator für Länder, liegt Nepal auf Platz 157. Österreich liegt aktuell auf Platz 18.

Prostitution ist zwar nicht verboten, wird aber von der breiten Bevölkerung als kriminell angesehen. Daher wird sie meist unter einem anderen Namen verkauft. Die Sexarbeiterinnen bieten ihre Dienste öffentlich nicht sichtbar an. Kennt man jedoch die Decknamen, springt an jeder Ecke ein Bordell ins Auge. Meistens findet die Prostitution in den unzähligen Massagesalons statt, die sich vor allem in Thamel befinden. "Wir haben gezählt: Es gibt im Moment 225 Massagesalons in Thamel, doch nur in zwölf wird seriöse Massage angeboten", sagt die Raksha-Chefin.

Schilder wie diese prägen das Stadtbild von Thamel. Meist handelt es sich jedoch um Bordelle.
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Bordelle als Massagesalons getarnt

Die 40-jährige Batuli K. C. arbeitet in so einem als Massagesalon getarnten Bordell und gewährt Einblick. Dünne Sperrholzwände, die nicht einmal bis zur Decke reichen, trennen die Betten voneinander. Mehr als ein Sichtschutz zum Nachbarn sind sie nicht. Die Bettlaken haben ein klinisches Blau, das von Flecken übersät ist. In einem Regal stehen Babyöle und Cremen gegen Rheumaschmerzen. Drei Kübel voll Wasser dienen in einer Ecke als schnelle Waschgelegenheit. Badezimmer gibt es nicht.

Einblick in einen "Massagesalon" in Thamel.
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Außer Batuli K. C. arbeiten hier fünf Frauen, sie sind 17 bis 23 Jahre alt. Pro Stunde verdienen sie 600 bis 800 nepalesische Rupien, also viereinhalb bis sechs Euro. Ein Viertel des Geldes müssen sie mit der Besitzerin der Räumlichkeiten teilen. "Sie ist die Ehefrau eines hohen Polizeibeamten, daher haben wir keine Wahl", sagt Batuli K. C. Sie selbst ist Witwe, mit ihrem Job begann sie nach dem Unfalltod ihres Ehemanns. "Ich musste meine vier Kinder ernähren", sagt die schmale Frau mit dem entschlossenen Blick. Alleinstehende Frauen ohne Bildung finden in der Prostitution einen Weg, ihren Familien das Überleben zu sichern. Obwohl der bezahlte Sex also ohne direkten Zwang stattfindet, liegt die Frage, ob es sich um eine freie Wahl handelt, im Graubereich.

Batuli K. C. begann mit der Sexarbeit, um ihre Kinder ernähren zu können. Sie steht vor dem Bretterverschlag, der ihre Kabine vom nächsten Bett trennt.
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Obwohl das touristische Thamel Zentrum der Sexarbeit ist, sind die fleißigsten Kunden Soldaten und Polizisten. "Oft verlangen sie freien Service", sagt die Prostituierte. Es sei schwierig, sich zu weigern, es komme danach immer wieder zu willkürlichen Verhaftungen und Schutzgeldforderungen. Eine weitere Gefahr sei, dass wenige Freier ein Kondom benutzen wollen. Bei einer Gesundenuntersuchung durch Raksha wurden 29 von 500 Frauen positiv auf HIV getestet.

"Niemand übt diesen Beruf wirklich freiwillig aus"

Das Ziel von Raksha ist es, den Frauen alternative Einkommensmöglichkeiten aufzuzeigen. Das erste Mal in ihrem Leben sollen sie die freie Wahl haben, wie sie ihr Leben führen wollen. Durch Trainings und Workshops werden sie für andere Berufe fit gemacht. Dazu gehört zum Beispiel Friseurin, Kosmetikerin, Schneiderin oder Rikschafahrerin. Taxifahren ist für Frauen übrigens noch immer tabu. Auch Masseuse ist ein lukrativer Geschäftszweig, die Frauen können Arbeit in seriösen Spas und Hotels finden.

Eine Frau lernt im Raksha-Haus den Umgang mit der Nähmaschine. Sie will Schneiderin werden und mit der Prostitution aufhören.
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Im Moment koordiniert Raksha auch 23 Frauengruppen, die sich regelmäßig treffen. Dabei wird über Ausbildung, Kredite, aber auch Ausbeutung durch Freier und Gewalt durch die Polizei diskutiert. Die Gruppen sparen außerdem gemeinsam Geld. Dadurch können sie sich gegenseitig finanzieren, wenn Startkapital für ein eigenes Geschäft benötigt wird. Raksha lebt rein von Spenden, dadurch wird auch die Geldmenge bestimmt, die den Frauen zugeteilt werden kann. "Die Regierung unterstützt unsere Arbeit nicht", sagt Menuka Thapa. Im Gegenteil, Raksha werde oft als Bedrohung empfunden. Seit 2010 unterstützt die österreichische Dreikönigsaktion, Hilfswerk der katholischen Jungschar, mit den Spenden durch die Sternsinger die Arbeit von Raksha.

"Ich kenne den Schmerz und das Leben der Sexarbeiterinnen. Niemand will diesen Beruf wirklich ausüben", sagt Muna Nepali. Sie will im Haus von Raksha bleiben und mit Menuka Thapa zusammenarbeiten. Nach der Schule will sie Psychologie studieren, um Prostituierte gut beraten zu können: "Vielleicht kann ich dann einmal einer anderen Muna heraushelfen." (Julia Schilly, derStandard.at, 4.1.2014)