Ein Lied für die Göttin. Der Schulhof in einer höheren Schule in Nepals Hauptstadt Kathmandu ist gut gefüllt. Alle Kinder tragen hellblaue Hemden, dunkelblaue Hosen oder Röcke und eine Krawatte, auf der ein Stern und das Schulemblem gestickt sind. Zu Schulbeginn wird aus voller Lunge für Sarasvati gesungen, dazu gibt es eine eigene Choreografie. Die populäre hinduistische Göttin steht für Weisheit und Gelehrsamkeit.

Schuluniformen, synchrone Bewegungen und Gesang täuschen zunächst über die großen sozialen Unterschiede der Kinder hinweg. Das wird bei einem Besuch in einem Klassenzimmer mit zwölf- bis 13-jährigen Kindern deutlich. Sie berichten sachlich über ihre Lebensumstände: Einige wohnen bei der eigenen Familie, doch viele berichten, dass sie bei fremden Menschen wohnen und arbeiten. Mitarbeit, das geht weit über Handgriffe hinaus. Während einige Kinder noch geschlafen haben, hat der Tag für die zierliche, 13-jährige Sita Chaudhary zum Beispiel um fünf Uhr in der Früh begonnen.

Vor Schulbeginn wird der Göttin Sarasvati ein Lied gesungen.
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Unbezahlte Haushaltshilfe

Seit zwei Jahren wohnt sie bei einer vierköpfigen Familie, die aus einem älteren Ehepaar, deren greisem Vater und einem Sohn in den 30ern besteht. Wenn es noch dunkel ist, steht sie vor dem trüben Aquarium, das in eine Wand der Küche eingebaut ist, und bereitet das Frühstück für vier Leute zu. Danach räumt sie in der weitläufigen Wohnung auf. Später wäscht sie Teller und nach der Schule die Schmutzwäsche, sie kocht das Essen, erledigt Einkäufe oder bedient manchmal auch Gäste. Eine weitverbreitete Praktik in Nepal: Kinder, meist ab sieben Jahren, beginnen als fast kostenlose Arbeitskräfte im Haushalt, in Ferienwohnungen oder Hotels mitzuarbeiten. Im Gegenzug gibt es nur Kost und Logis und die wertvolle Möglichkeit, eine Schule zu besuchen.

Der Sohn der Familie, bei der sie wohnt, studierte in Großbritannien, arbeitete nebenbei im Restaurant von Jamie Oliver und ist jetzt als Berater in Kathmandu tätig. Dass eine 13-Jährige allein einen großen Haushalt führt, empfindet er nicht als ungewöhnlich. "Sie wollte lernen, daher hat sie ihr Zuhause verlassen. Beide Seiten profitieren", sagt er. Schon einmal habe ein junges Mädchen bei ihnen gearbeitet, sie blieb vom siebten bis zum 16. Lebensjahr, danach sei der Kontakt jedoch abgebrochen.

Der Sohn berichtet, dass Sita sonst auf dem Feld arbeiten würde und keine Chance auf einen Schulbesuch hätte. Arbeit ohne Bildung: Alltag für viele Menschen in diesem Land. Laut dem aktuellen UNICEF-Report 2013 hat Nepal mehr als 30 Millionen Einwohner, davon sind knapp 13 Millionen unter 18 Jahre alt. Insgesamt 34 Prozent der Kinder zwischen fünf und 14 Jahren arbeiten. Und mehr als eine halbe Million Kinder zwischen fünf und zwölf Jahren hat noch nie eine Schule besucht. Sie arbeiten stattdessen in Fabriken, in denen zum Beispiel billig Teppiche angefertigt werden, auf dem Feld, in der Ziegelherstellung oder als Haushaltshilfen.

Sita Chaudhary geht in der Schulpause nach Hause, um den Haushalt zu erledigen.
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Gefangen in Arbeitssystemen

Angesichts dieser Zahlen überrascht es nicht, dass viele Eltern in dieser speziellen Form von Kinderarbeit eine Chance auf Bildung für ihren Nachwuchs erkennen und Ungewissheit und eine lange Trennung in Kauf nehmen. Denn rund 44 Prozent von Nepals Bewohnern leben unter der Armutsgrenze, mehr als die Hälfte sind Analphabeten. Viele Kinder sind so in Arbeitssystemen gefangen, dass sie überhaupt keine Chance auf Bildung haben. Das betrifft vor allem jene, die einer niedrigen Kaste angehören. Immer noch ist Diskriminierung allgegenwärtig, juristische Mittel, wie das Zivilrecht von 1963, das alle Formen von Diskriminierung und insbesondere Kastendiskriminierung unter Strafe stellt, greifen kaum.

Kastenwesen und soziale Fragmentierung: eine andere Seite des hinduistisch geprägten Staats.
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Das sind auch die Grenzen, an die NGOs im Rahmen ihrer Projekte in Nepal stoßen, berichtet Andrea Kadensky, Projektleiterin für die Länder Nepal und Indien bei der Dreikönigsaktion, dem Hilfswerk der Katholischen Jungschar. "Es wird leider nicht gelingen, Kinderarbeit von heute auf morgen zu stoppen. Änderungen passieren in einer sozial fragmentierten Gesellschaft nicht mit viel Druck", sagt sie.

Freizeit als kostbares Gut

Die österreichische NGO – die Sternsinger klopfen in diesem Winter übrigens bereits zum 60. Mal an die Türen der Menschen in Österreich – unterstützt die Organisation Ruwon. Ziel ist es, den arbeitenden Kindern mehr Freizeit zu verschaffen. Im Rahmen eines von Ruwon organisierten "Kinderclubs", der zweimal pro Monat zusammenkommt, soll vor allem Raum für die Kinder selbst und für Freundschaften geschaffen werden. Und Zeit ist ein kostbares Gut. "Den meisten Kindern ist nicht bewusst, was Kindsein ist", sagt Kadensky. Dass sie zum Beispiel auch ein Recht auf ein Privatleben haben, sei wenig im Bewusstsein präsent.

Manche Themen werden jedoch auch im Kinderclub nicht angesprochen. Denn unbegleitete Kinder sind auch Gewalt und sexuellem Missbrauch ausgesetzt. "Darüber haben wir hier im Kinderclub noch nichts gehört", lautet die knappe Antwort eines Mitarbeiters. In dem hinduistisch geprägten Land gilt Reinheit als höchstes Ziel. Tabuthemen werden selten angesprochen. "Dort, wo es nicht so gut ist, würde man uns nicht hinlassen", gibt Kadensky zu bedenken.

Doch die Arbeit im Kinderclub trägt erste Früchte, wie Gespräche mit den Kindern zeigen. "Ich habe gelernt, selbstsicherer zu sprechen und meine Rechte einzufordern", sagt eine 13-jährige Schulkollegin von Sita mit fester Stimme. Sie habe selbst veranlasst, dass sie nicht mehr bei der fremden Familie wohnt, bei der sie arbeitet. Die Arbeitszeiten von fünf Uhr Früh bis Mitternacht habe sie nicht mehr ausgehalten. Nun lebe sie zwar in beengteren Verhältnissen bei ihrer Tante, dafür arbeitet sie laut eigenen Angaben "nur" noch bis zehn Uhr am Abend.

Das Leben vieler nepalesischer Kinder ist von Arbeit und strengen Regeln geprägt.
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Arbeit ohne Chance auf Bildung

"Das kulturelle Verständnis von Kindsein ist anders. Der Ernst des Lebens beginnt meist recht früh, da auch die Familie so arm ist, dass in der Landwirtschaft mitgearbeitet werden muss", sagt die Dreikönigsaktion-Mitarbeiterin. Auch Sita Chaudhary kommt vom Land, sie wurde im Bezirk Dang geboren, der etwa 280 Kilometer westlich von Kathmandu liegt und an Indien angrenzt. Einmal im Jahr, in den längeren Ferien rund um das Lichterfest Diwali, besucht sie ihre Eltern und ihre acht Geschwister. Die Reise dauert mit dem Auto rund acht Stunden.

In Kathmandu dauert der Heimweg von der Schule nur zehn Minuten zu Fuß. Zunächst erledigt sie ihre Arbeit, und erst nach den Hausaufgaben gibt es eine halbe Stunde Fernsehen. Die Zeit nutzt Sita aber lieber, um an ihrem schmalen Tisch zu lesen. "Sie ist sehr introvertiert und schüchtern. Sie liest viel und redet nicht oft. Aber ihre Lehrer haben gemeint, dass sie in der Schule viele Fragen stellt", sagt der Sohn des Hauses mit Stolz in der Stimme. Ihr Lieblingsfach sei "Health", also alles, was mit Gesundheit und Hygiene zu tun hat. Später wolle sie Krankenschwester werden.

Sita Chaudhary liest an dem kleinen Tisch in ihrem Durchgangszimmer. Davor liegt ihre Matratze. Das Bett dahinter darf sie nicht benutzen.
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In diesem Moment wirkt die Gast- fast wie eine Ersatzfamilie. Doch die Details verraten, dass Sita Chaudhary nicht gleichberechtigt in dem Haus lebt. Während alle anderen in soliden Holzbetten und eigenen Zimmern schlafen, liegt für sie nur eine durchgelegene Matratze in einem Durchgangszimmer auf dem Boden. Daneben steht ein unberührtes, frisch gemachtes Bett. "Das ist für Gäste, nicht für Sita", erklärt die Familie auf Nachfrage. (Julia Schilly, derStandard.at, 18.12.2013)