"Experiment Gesamtschule": Parallelen einer Radtour mit dem österreichischen Schulsystem.

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Ich bin mit Peter, Chantal, Mohammed, Aleksandar, Marie und Julian* zu einer Radtour verabredet. Via Whatsapp haben wir zuvor die Route gesucht und besprochen. Wir waren uns einig: Für die erste Tour der Saison ist eine kurze mit geringer Steigung passend, und so entschieden wir uns für die als "leicht" beschriebene Tour zu einer bewirtschafteten Alm.

Was dann noch fixiert werden musste, war das Tempo, in dem wir unser Ziel, die Alm, in Angriff nehmen wollten. Die Schnelleren unter uns plädierten für eine Teilung der Gruppe, um nicht ständig, sondern erst bei der Alm auf die Langsamen warten zu müssen. Nach einigem Debattieren einigten wir uns letztendlich darauf, die Radtour als geschlossene Gruppe zu bestreiten. Wir wollten nicht nur zusammen losfahren, sondern auch gemeinsam am Ziel ankommen.

Experiment Gesamtschule

Spaßeshalber bezeichneten wir unser Vorhaben als "Experiment Gesamtschule". So, wie in der Gesamtschule Kinder unterschiedlichster Herkunft aus den verschiedensten Gesellschaftsschichten gemeinsam unterrichtet werden sollen, fühlten auch wir uns ein wenig wie ein "bunter Haufen" angesichts unserer stark differierenden Kondition und unserer unterschiedlichen Ausstattung bei Fahrrad, Bekleidung et cetera.

Anfangs rollen wir als geschlossene Gruppe entlang einer asphaltierten Straße dahin, doch kaum gilt es, den ersten steilen Anstieg zu bewältigen, setzen sich die schnelleren Radler von der Gruppe ab, die langsameren bleiben hingegen zurück, womit unser Experiment eigentlich gescheitert ist. Auch bei der Gesamtschule ist zu befürchten, dass jene, die leichter lernen und sich unterfordert fühlen, irgendwann davonziehen, während lernschwache Schüler den Anschluss verlieren könnten.

In der Gruppe

Unsere konditionsstarken Kollegen warten nach dem Steilstück auf uns. Damit die Tour weiterhin unter dem Slogan "Gesamtschulradtour" laufen kann, muss die Gruppe zusammenbleiben. Deshalb reihen sich die Sportlicheren hinten ein und müssen außerdem versprechen, nicht zu überholen.

Nun geben die konditionell Schwachen den Takt vor, weshalb das Tempo deutlich geringer ist als zuvor. Beim System Gesamtschule ist zu befürchten, dass die ursprüngliche Förderung von Talenten zu einer Gleichmachung, zu einer Erzeugung von Durchschnittsmenschen führt. Ist es wirklich dieser "Einheitsbrei", den wir uns für die Zukunft, für unsere Kinder wünschen?

Tempo machen

Nach einiger Zeit überholt uns wegen unserer geringen Geschwindigkeit eine Gruppe konditionsstarker Radfahrer, die in meiner Geschichte symbolisch für die Gymnasiasten des Landes stehen. Ihr Tempo ist deutlich höher, wobei der Frontmann nicht einmal zu schwitzen scheint, die Mehrheit scheint das Tempo problemlos mitgehen zu können, lediglich dem Letzten der Gruppe steht die Anstrengung ins Gesicht geschrieben.

Zu unserer großen Freude können auch wir einmal zu einem Überholmanöver ansetzen: Wir ziehen an einer Gruppe konditionsschwacher Biker vorbei. Beim Vorbeifahren ruft uns einer der Radler, die symbolhaft die Schüler der Neuen Mittelschule darstellen sollen, zu, dass er mit seinen Kollegen trotzdem vor allen anderen wieder im Tal sein werde, weil sie die besseren "Downhiller" seien. Natürlich können auch NMS-Schüler Karriere machen.

Im Windschatten

Kurz nachdem wir erstmals unseren Zielort erspäht haben, überholen uns zwei top ausgerüstete Mountainbiker, die hier die Schüler eines Privatgymnasiums symbolisieren. Angesprochen auf ihre gute Ausrüstung, entgegnen die beiden, dass sie überzeugt seien, die Menschen würden sich zukünftig vermehrt bessere Ausrüstung zulegen – was dem zu erwartenden stärkeren Aufkommen von Privatschulen entspricht, sofern die Gesamtschule eingeführt wird.

Nach einer längeren Rast bei der als Zielort definierten Alm treten wir gestärkt und voller Vorfreude die Abfahrt an. Auf einer längeren Gerade überholen wir ein junges Paar: Der Mann lässt die Frau in seinem Windschatten fahren, damit sie nicht zurückbleibt – auch das kann Gesamtschule sein! (Anna Siebenbrunner, 29.7.2016)