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20. August: Das Erstaufnahmezentrum in Traiskirchen ist voll, auf dem Areal werden Zelte aufgestellt.

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29. Oktober: Ein Schlafraum in Traiskirchen. Private Notschlafstellen verhindern, dass Flüchtlinge auf der Straße schlafen müssen.

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Im Sommer stand Traiskirchen im Mittelpunkt der Flüchtlingsdebatte. Es gab Kritik an den Zuständen im Erstaufnahmezentrum, am Verhalten der Behörden und es gab Hilfe aus der Zivilgesellschaft. Rechtsanwalt Ronald Frühwirth, seine Kollegin Julia Ecker und seine Mitarbeiterin Sarah Kumar verbrachten im August einen Tag in Traiskirchen. Frühwirth schildert die Probleme, die die Anwälte dort beobachten konnten und welche Mittel man aus rechtlicher Sicht gegen "Teilnahmslosigkeit und Versagen der Behörden" ergreifen kann.

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Traiskirchen, 20. August. Ein Wahrnehmungsbericht

Ein Tag mit vielen – auch guten – Eindrücken. Wir waren überrascht, welche positive Grundstimmung bei den Asylsuchenden vorherrschte, trotz aller Widrigkeiten. Wir kamen mit vielen Menschen rasch und offen ins Gespräch. Etwa zwei jungen Männern aus Syrien, ganz verzweifelt, da sie nicht mehr in die Erstaufnahmestelle hineingelassen wurden, da sie offenkundig einen Bus für einen Transfer in eine andere Einrichtung verpasst hatten.

Sie hatten furchtbare Angst, dass ihr Asylverfahren nicht mehr fortgesetzt würde und sie nicht mehr zu ihren Dokumenten kämen. Dass sie seit einigen Tagen im Freien schlafen mussten und keine Verpflegung erhielten − das war kein Problem. Bemerkenswert, aber auch nicht ganz verwunderlich, wenn man bedenkt, welche anderen Hürden sie schon auf sich genommen hatten, um die Reise von Syrien nach Österreich zu bewerkstelligen.

Neben all dem Engagement der Zivilgesellschaft zeigte sich auch Resignation und Fassungslosigkeit, Facetten, die die positiven Eindrücke massiv trübten. Dazu zählten insbesondere der offenkundige Unwille, die Teilnahmslosigkeit und das blanke Versagen des Staates.

Rauswurf aus der Erstaufnahmestelle

Was uns den ganzen Tag über auffiel, waren die vielen Fälle von Leuten, die aus der Erstaufnahmestelle geworfen wurden. Der Grund war oft, dass angebliche Transfers verpasst wurden. In der Praxis lief dies – im August – scheinbar so ab: Jeden Tag um 8 Uhr morgens wurde an einem bestimmten Ort in der Erstaufnahmestelle eine Liste der Namen der Personen ausgehängt, die an diesem Tag für einen Transfer in eine andere Unterbringungseinrichtung vorgesehen waren. Das bedeutete, dass rund 4.000 Personen zum genannten Zeitpunkt ihre Namen auf der Liste checken mussten. Naturgemäß gab es immer wieder Gründe, weshalb jemand um 8 Uhr nicht vor Ort sein konnte; weil es etwa andere Termine, wie Einvernahmen, einzuhalten gab.

Die Konsequenz: Wer seinen Transfer verpasste, egal warum, flog aus der Erstaufnahmestelle, konnte nicht zum angedachten Quartier gelangen, hatte keinen Zugang mehr zu Behörden und konnte klarerweise dadurch auch keine behördlichen Schriftstücke mehr erhalten.

Minderjährige ohne Schlafplatz

Gegen 21 Uhr trafen wir eine Gruppe junger Frauen in der Nähe des Eingangstors der Erstaufnahmestelle. Sie saßen im Freien in einem Kreis. Wir fragten sie, ob sie keinen Platz in der Erstaufnahmestelle hätten. Sie meinten, sie würden hier die Nacht verbringen, um einer Freundin Unterstützung zu bieten, die keinen Zugang zur Erstaufnahmestelle hatte. Diese Freundin war ein 16-jähriges Mädchen – eine von erschreckend vielen unbegleiteten Jugendlichen ohne Schlafplatz, auf der Straße. Die 16-Jährige erzählte, vor Kälte zitternd, dass sie die Erstaufnahmestelle mittags verlassen musste, weil sie übersehen habe, dass sie morgens auf der Transferliste gestanden sei. Allein traue sie sich keinesfalls auf der Straße zu übernachten. Zum Glück würden ihre älteren Freundinnen über Nacht bei ihr bleiben. Da platzte uns dann der Kragen.

Wir gingen gemeinsam mit der jungen Frau zum Eingangsportal der Erstaufnahmestelle, stellten uns an und sagten, es könne nicht gehen, ein unbegleitetes, minderjähriges Mädchen vor die Tür zu setzen, sie müssten sich was überlegen. Der Beamte ließ uns kurz warten und teilte uns zehn Minuten später mit, das Mädchen könne die Nacht in einem Bett in der Erstaufnahmestelle verbringen. Für uns das Highlight des Tages, aber bezeichnend − welches minderjährige Mädchen hat schon das Glück, dass es nach seinem Rauswurf mit Rechtsanwälten im Schlepptau ans Eingangstor kommt und damit wieder eingelassen wird.

Teilnahmslosigkeit und Versagen

Der Fall ist symptomatisch für die Teilnahmslosigkeit und das Versagen der Behörden beziehungsweise der Regierung bei der Unterbringung und Betreuung von asylsuchenden Menschen. Dabei könnten diese Fälle so leicht vermieden werden. Es ist auch kein Ressourcenproblem. Der Fokus der Behördenarbeit lag – jedenfalls im August – auf Kontrolle und Sanktionierung. Anstatt die Leute nach den Transfers herauszufischen und sie aus der Erstaufnahmestelle zu werfen, hätte man – viel einfacher und mit demselben zeitlichen Aufwand – schon im Vorfeld durch die Erstaufnahmestelle gehen und die Leute informieren können, dass sie am nächsten Tag zum Transfer bereitstehen mögen.

Rechtsmittel: Verhaltensbeschwerden

Was tun? Die Rechtsberatung der Diakonie – unter Federführung von Emanuel Matti – hat es vorgezeigt. Einige Köpfe mussten vorher rauchen, aber dann wurde der Versuch gestartet, die Behörde mit Rechtsmitteln dazu zu bewegen, ihrer Verpflichtung zur Betreuung und zum Schutz asylsuchender Menschen nachzukommen. Wie das geht? Rechtsanwältinnen, Rechtsanwälte und NGOs brachten sogenannte Verhaltensbeschwerden beim Bundesverwaltungsgericht ein. In allen Fällen, in denen Grundversorgung verweigert oder gestrichen wird, kann dies ein denkbarer Weg sein, wenn die jeweilige Entscheidung nicht in Form eines Bescheides erging. Verfassungsrechtlich lässt sich die Zulässigkeit dieser Beschwerden – unseres Erachtens – gut argumentieren:

Das Bundesverfassungsgesetz (B-VG, Art. 130 Abs. 2 Z. 1) ermöglicht es, ein Verhalten einer Verwaltungsbehörde in Vollziehung der Gesetze zum Gegenstand einer Beschwerde wegen "Rechtswidrigkeit" dieses Verhaltens zu machen (Verhaltensbeschwerde). Beschwerdegegenstand kann in Abgrenzung zum Bescheid und zum Akt unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt jenes Handeln der Behörde bilden, dem in "abgeschwächter Normativität" potenzielle Eingriffsqualität in subjektive öffentliche Rechte zukommen kann. Verhaltensbeschwerden können nicht nur auf die Rechtswidrigkeit eines Handelns der Behörde abstellen, sondern können gesetzlich auch dann vorgesehen werden, wenn die Verwaltung ein gebotenes Verhalten nicht gesetzt hat.

Die Entscheidungsbefugnis der Verwaltungsgerichte über eine Verhaltensbeschwerde setzt voraus, dass ihnen eine solche Zuständigkeit durch Bundes- oder Landesgesetz eingeräumt wird. Die sogenannte Aufnahmerichtlinie der EU (Art. 26 Abs. 1) bestimmt ausdrücklich, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass gegen Entscheidungen im Zusammenhang mit der Gewährung, dem Entzug oder der Einschränkung von Vorteilen gemäß dieser Richtlinie ein Rechtsbehelf eingelegt werden kann. Zumindest in der letzten Instanz ist die Möglichkeit einer auf Sach- und Rechtsfragen gerichteten Überprüfung durch eine Justizbehörde vorzusehen. Die Möglichkeit, einen Rechtsbehelf einlegen zu können, stellt ein subjektives Recht dar.

Nach dem Grundversorgungsgesetz des Bundes entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen die Entscheidungen der erstinstanzlichen Grundversorgungsbehörden. Sofern Grundversorgung nicht mittels Bescheid, sondern durch schlichtes Behördenhandeln gewährt, entzogen oder eingeschränkt wird, muss unter dem Begriff der "Beschwerden gegen die Entscheidung" – bei richtlinienkonformer Interpretation im Lichte der Aufnahmerichtlinie – auch eine Verhaltensbeschwerde verstanden werden.

Hilfsweise ließe sich eine solche Beschwerde übrigens auch direkt auf Artikel 26 der Aufnahmerichtlinie stützen, weil den Betroffenen anderenfalls kein Rechtsbehelf zur Verfügung stehen würde, und Artikel 26 der Aufnahmerichtlinie mangels fristgerechter Umsetzung durch den österreichischen Gesetzgeber unmittelbar anwendbar ist.

Formlose Entscheidungen

Die Entscheidungen der Grundversorgungsbehörden in der Erstaufnahmestelle in Traiskirchen, Grundversorgungsleistungen einzustellen beziehungsweise Asylsuchenden keine Versorgung zu gewähren, erfolgten in der Regel formlos. Es liegt damit schlichtes nicht-typengebundenes Verwaltungshandeln vor, das unseres Erachtens zum Gegenstand einer Verhaltensbeschwerde gemacht werden kann, weil das jeweilige Handeln entweder rechtswidrig war oder es die Behörde unterließ, ein gebotenes Verhalten – nämlich die Gewährung von Grundversorgungsleistungen – zu setzen.

Das Bundesverwaltungsgericht hat erste Beschwerden aus formalen Gründen abgewiesen. Es gebe keine Rechtsgrundlage für Verhaltensbeschwerden. Es werden also nun die Höchstgerichte bemüht.

Sicher ist jedenfalls eines: Das Recht kann als taugliches Mittel genützt werden, um Menschen zu Selbstermächtigung zu befähigen und den Fokus auf gesellschaftliche Missstände zu lenken. (Ronald Frühwirth, 11.11.2015)