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Kinder und Jugendliche müssen sich oft selbst durchbeißen – was wiederum für sie eine ständige, oft schon in der Volksschule beginnende Überforderung darstellt.

Foto: dpa/Armin Weigel

Die heftigen Debatten der vergangenen Tage und Wochen über "integrationsunwillige" Schülerinnen und Schüler und deren Eltern und mögliche strafrechtliche Konsequenzen für daraus resultierende "Delikte" geht in eine Richtung, die mich als Geschäftsführerin einer seit vielen Jahren mit Schulsozialarbeit an Pflicht- und Berufsschulen tätige Einrichtung, zu einer sachlichen Gegenargumentation veranlasst.

Keines der von den jeweiligen Ministerinnen, Ministern und Parteivorsitzenden genannten Probleme ist wegzureden:

  • Ja, es gibt die Burschen, die jede Zurechtweisung von weiblichen Lehrpersonen ignorieren,
  • ja, es gibt die Mädchen, die Lehrberufe nicht ergreifen dürfen, weil es ihre Väter aus religiösen Gründen nicht erlauben,
  • ja, es gibt die Probleme in Poly- oder NMS-Klassen mit unterschiedlichen ethnischen Gruppen und
  • ja, es gibt die engagiert bemühten – und in der Folge oft frustrierten –, die völlig unsensiblen und die schlichtweg überforderten Lehrerinnen und Lehrer, für die es zu wenig Fortbildungsangebote und kaum Supervisions- und Reflexionsangebote zu diesen komplexen Themen gibt.

Lösungen statt "Sager"

Komplex ist die Materie für all jene, die sich intensiv damit befassen (müssen). Je mehr sie sich hineinvertiefen, desto schwieriger und komplexer wird es bei jeder einzelnen Fallgeschichte, in jeder einzelne Klassen- oder Familiensituation. Multikulturalität und Diversität an Sprachen, Religionen und Weltanschauungen in den Schulen haben eine Dimension erreicht, die angesichts der ohnehin angespannten Bildungsdebatte zu plakativen Lösungsansätzen und völlig unqualifizierten "Sagern" verführt. Gerade deshalb wäre es so wichtig, in diesem aufgeheizten Diskussionsklima einen kühlen, fachlich-sachlichen Kopf zu bewahren und sich die Mühe der Unterscheidung zwischen verschiedensten Faktoren zu machen, die Radikalisierung bei Jugendlichen auslösen.

Erfahrungsgemäß gibt es quer durch die Familien unterschiedlichster Herkunftsländer und unterschiedlichster religiöser Zugehörigkeit die vielfältigsten Variationen von "Integrationswilligkeit" in die Gesellschaft. Gleichzeitig erweisen sich die Integrationsmöglichkeiten für motivierte Familien oft als viel schwieriger und langwieriger als erwartet, was zu Resignation und Frustration führen kann.

"Integration" fordert und überfordert

Der Verein Jugend und Kultur ist in der niederschwelligen Jugendarbeit immer wieder mit Jugendlichen konfrontiert, die kaum oder schwer zu motivieren sind, eine Berufsausbildung zu absolvieren – unabhängig von ihrer Herkunft. Und dann gibt es die große Gruppe jener Schülerinnen, Schüler und Lehrlinge, die höchst motiviert sind, die deutsche Sprache schnell zu erlernen und einen Ausbildungsweg erfolgreich abzuschließen, obwohl sie dabei durch ihre Familien kaum bis gar nicht unterstützt werden (können). Nicht deshalb, weil Bildung keinen Stellenwert hätte - auch das gibt es noch immer vor allem in Bezug auf Mädchenausbildung.

Oft stellt sich in den Gesprächen heraus, dass die Familie mit der "Integration" – Organisation von Wohnung, Arbeit, Papieren, Aufbau eines europäischen Lebensstandards – bis aufs Äußerste gefordert oder überfordert ist. Kinder und Jugendliche müssen sich einfach selbst durchbeißen – was wiederum für sie eine ständige, oft schon in der Volksschule beginnende Überforderung darstellt. Eine Spirale fehlender schulischer Erfolge und damit eingeschränkter Lehrplatz- und Weiterbildungsmöglichkeiten beginnt sich zu drehen, die bei vielen mit einiger Unterstützung abwendbar wäre.

Selbst dort, wo es Helfersysteme (Beratungslehrerinnen und Beratungslehrer) sowie Support-Projekte (Sprachförderung, Nachhilfestunden, etc.) gibt, gerät die Schule sehr schnell an ihre Grenzen. Vor allem in jenen Fällen, die nicht "jugendamtsmeldepflichtig" sind. Also dort, wo familiäre Defizite bekannt sind, die sich jedoch (noch) nicht auf den schulischen Erfolg und auf das Verhalten der Kinder und Jugendlichen eklatant auffällig auswirken.

Hier kann Schulsozialarbeit – rechtzeitig im Alter von 10 bis 15 Jahren an Pflichtschulen – beratend, mediativ und unterstützend eingreifen. Schulsozialarbeit ist eine erprobte, schon jetzt vielfach in ganz Österreich praktizierte Unterstützung des Schulsystems durch Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter. Der Fokus liegt dabei nicht auf schulischem Erfolg und Wissensvermittlung, sondern auf individuellen Problemen im sozialen Umfeld des Jugendlichen. Das geschieht immer in enger kollegialer Zusammenarbeit mit dem "Schulsystem", also der Schulleitung, den Lehrerinnen und Lehrern, die sehr oft als Erste aufmerksam werden, wenn ein Kind Probleme mit sich herumträgt.

Strafen bewirken Rückzug

Viele betroffene Jugendliche sind extrem bemüht, im schulischen Kontext möglichst gut angepasst zu agieren und ja nicht aufzufallen. Parallel dazu sind sie außerhalb der Schule solidarisch mit ihrer Herkunftsfamilie, mit ihrer Herkunftskultur, die sich nicht nur durch ethnische Zugehörigkeit und Religion unterscheiden kann, vielmehr auch durch Lebenseinstellungen und gesellschaftlichen Stellenwert geprägt ist. Das bedeutet nicht selten fast unlösbare Konflikte, die sich Ventile suchen: Vandalismus, latente Gewaltbereitschaft, Schulverweigerung, Flucht in Sekten oder politischen Extremismus, Kriminalität, aber auch Depression oder Suizidgefährdung – die Liste könnte noch fortgesetzt werden. Deshalb würden Strafen für Eltern, die mit dem gängigen österreichischen Schul- und Wertesystem – das einer genaueren Definition noch bedarf – nicht kompatibel sind, nur das Gegenteil bewirken: nämlich noch mehr Rückzug und noch mehr Ausgrenzung der Jugendlichen aus jenen gesellschaftlichen Systemen, in die eigentlich Integration stattfinden sollte.

Schulsozialarbeit könnte sofort eingesetzt werden, um kontinuierlich und nachhaltig die Probleme anzugehen, mit denen viele Jugendliche heute konfrontiert sind. Und sie unterscheidet nicht, stigmatisiert niemanden als "integrationsunwillig", "gefährdet" oder sonstwie negativ.

Ein Workshop macht noch keine Integration

Es wäre sinnvoll, wenn sich die Politik auch nach Abflauen der aufgeregten Islamismus-Gefahr-Debatte – die viele in der Jugendarbeit Tätige frappant an die "Komasauf-Debatte" vor einigen Jahren erinnert – zu mehr als 300 Workshops aufraffen könnte. Sie sind ein guter Anfang. Doch ein Workshop macht noch keine Integration und Lebensperspektive.

Es fehlt das Geld

Für Schulsozialarbeit braucht es keine neuen Konzepte. Es braucht den politischen Willen, die nötigen Geldmittel zur Verfügung zu stellen. Im Falle der Sicherheitsdebatte nach den Attentaten in Paris waren sie schnell gefunden, um das Innenministerium im Kampf gegen recht wenig greifbare, befürchtete Gefahren aufzurüsten. Vielleicht finden sich in einer gemeinsamen Anstrengung von Unterrichtsministerin, Außenminister und Innenministerin auch die notwendigen Mittel für den Ausbau der Schulsozialarbeit. (Anna Lesnik, derStandard.at, 30.1.2015)