Was sind Österreichs Grundwerte? Wie lassen sie sich klar vermitteln? Dazu sollen Expertinnen und Experten in einer Gesprächsreihe debattieren, an deren Ende es Antworten auf diese Fragen geben soll. Zum Start dieser Mammutaufgabe hatte Integrationsministerin Susanne Raab (ÖVP) am Donnerstag Fachleute zu einer ersten Diskussion über die "österreichische Identität und Leitkultur" ins Bundeskanzleramt eingeladen.

Integrationsministerin Susanne Raab (ÖVP) lud am Donnerstag ins Bundeskanzleramt zur Expertenrunde zum Thema "Österreichische Identität und Leitkultur: Werte des Zusammenlebens".
APA/CHRISTOPHER DUNKER

Im Integrationsbereich habe sich gezeigt, dass Grundprinzipien wie die Gleichberechtigung von Frauen und Männern oder Pressefreiheit "für jene, die zu uns kommen, oft keine Selbstverständlichkeit sind", sagte Raab noch vor dem Diskussionsauftakt bei einer Pressekonferenz. Vieles sei in Österreich verboten, was in anderen Ländern erlaubt sei: Genitalverstümmelung und Zwangsverheiratung oder antisemitische Äußerungen. Österreich sei aber mehr als seine Gesetze.

Vielfalt brauche Grundkonsens

Man höre zum Beispiel von Ärztinnen, bei denen Männer eine Behandlung ablehnen, oder Lehrerinnen, vor denen Burschen und Eltern keinen Respekt zeigen würden. Oder von "selbsternannten Sittenwächtern", die im Schulhof Mädchen vorschreiben würden, wie sie sich zu verhalten hätten. "Das ist inakzeptabel", sagte Raab. Österreich sei vielfältig. Und: "Vielfalt kann bereichernd sein, wenn es einen Grundkonsens des Zusammenlebens gibt."

Es stelle sich aber die Frage, wie man diesen Grundkonsens der Leitkultur weitertrage und wie man Lehrerinnen, Ärztinnen und Polizistinnen den Rücken stärken könne. Die Wertehaltung müsse klar kommuniziert und bei Nichteinhaltung sanktioniert werden, hielt die Ministerin fest. Auch darüber, wie das gehen könne, sollen die Fachleute beraten.

Kaum Namen bekanntgegeben

Wer dazu zusammentritt, war nur bruchstückhaft verraten worden: Dabei ist die Linzer Juristin Katharina Pabel, die von der türkis-blauen Regierung 2018 als Richterin für den Europäischen Gerichtshof nominiert worden war, den Job dann aber nicht antrat. Die SPÖ bezeichnete Pabel in einer Aussendung als Abtreibungsgegnerin, mit ihrer Bestellung würde Raab "Rechte von Frauen infrage stellen". Für Raab ist die Kritik "absurd".

Ein weiterer Teilnehmer ist Migrationsforscher Rainer Münz, der für die Erste Bank gearbeitet und Jean-Claude Juncker als Präsident der EU-Kommission beraten hat. Er ist Gastprofessor an der Central European University.

Mitdiskutant ist auch Wolfgang Mazal, Professor am Institut für Arbeits- und Sozialrecht an der Uni Wien. Er sprach in der Vergangenheit ÖVP-Politikern seine Unterstützung aus, kritisierte aber auch den türkisen Vorstoß für die Kürzung von Sozialleistungen.

"Immer schwieriger zu beantworten"

Auch Soziologe Kenan Güngör, den DER STANDARD vor dem Treffen erreichte, ist unter den Eingeladenen. Zwar sei der Begriff der "Leitkultur" umstritten, aber es sei wichtig, darüber zu sprechen, was eine Gesellschaft zusammenhalte. Er nehme ein großes gesellschaftliches Bedürfnis dazu wahr, sagte Güngör. So eine Debatte könne etwas bringen – "oder auch nach hinten losgehen"; er sei vorsichtig.

"Was Österreich ist, ist immer schwieriger zu beantworten", meint Güngör. Es gebe Verunsicherung, und Parteien wie die FPÖ würden mit einem "exkludierenden Wir" arbeiten. Auch die ÖVP versuche, sich im Wahlkampf zu positionieren, ihm gehe es aber ums Thema. Er wolle eine offene, nicht reaktionäre Debatte, die ein aufklärerisches Hinterfragen sein müsse. Oft werde mit Homogenisierung und verkitschenden Bildern gearbeitet. Nach dem Treffen sagte Güngör, es sei ein offenes erstes Gespräch gewesen, auch mit Kritik am Begriff "Leitkultur".

Grüne sehen "Symbolpolitik", FPÖ "billigen Schmäh"

Faika El-Nagashi, Integrationssprecherin der Grünen, ordnet den türkisen Vorstoß als "Symbolpolitik, die Argwohn und Misstrauen sät", ein. "Wenn man das ernst meinen würde, müsste man einen partizipativen Prozess gestalten und Projekte fördern, die die Grundlagen des Lebens in Österreich vermitteln", sagt El-Nagashi zum STANDARD. Bei der Aktion ihres Koalitionspartners gehe es aber "nur um politisches Kleingeld, und das ist bedauerlich. Weder Kultur noch Werte sind in Österreich homogen, und sie lassen sich nicht verordnen."

Die Freiheitlichen sehen laut Aussendung einen "billigen Schmäh nach dem ÖVP-Prinzip Wählertäuschung". Die "Nehammer-ÖVP" stehe zum Beispiel für "Regenbogen- und Genderideologie" statt für traditionelle Werte wie Familie sowie eine "Anbiederung an den politischen Islam und dessen Vereine". (Sebastian Fellner, Gudrun Springer, 28.3.2024)