Als der langjährige Justizsektionschef Christian Pilnacek am Morgen des 20. Oktober 2023 tot aufgefunden wird, ist rasch klar: Dieser Fall wird viele Verschwörungstheorien und Spekulationen auslösen. Wenn jemand, der so mächtig, umstritten und gut vernetzt ist, plötzlich stirbt, stellen sich unweigerlich viele Fragen.

Nun, fünf Monate später, werden diese erstmals öffentlich diskutiert. Ausgelöst hat das einerseits der Ex-Politiker Peter Pilz, der auf seinem Portal "Zackzack.at" über den "Polizeifall Pilnacek" berichtet hatte, andererseits der Antikorruptionsexperte Martin Kreutner, der sich im Rahmen der Untersuchungskommission zu Justizinterventionen mit Pilnaceks Tod beschäftigt und nun eine Anzeige eingebracht hat.

Christian Pilnacek
Pilnacek im August 2022.
APA/EXPA/JOHANN GRODER

Auch DER STANDARD und der "Spiegel" recherchieren schon seit Monaten rund um Pilnaceks Tod – und fanden viele Gerüchte, aber nur wenig Belegbares. Zu wenig jedenfalls, um in die Privatsphäre Pilnaceks und seiner Hinterbliebenen einzugreifen. Nun sind die teils merkwürdigen Begleitumstände des Todesfalls allerdings Gegenstand einer Anzeige aus dem Justizministerium - und werden auch im Parlament zum Thema.

"Ich gehe fort"

Eindeutig rekonstruieren lässt sich der letzte Tag in Pilnaceks Leben. Der Justizbeamte, der wegen Vorwürfen des Amtsmissbrauchs suspendiert und Beschuldigter war, besucht tagsüber einen Empfang der ungarischen Botschaft in Wien und geht dann mit einem Familienmitglied essen. Auf einen Bekannten, der ihm begegnet, wirkt er "quietschfidel".

Am späteren Abend macht sich Pilnacek auf den Weg Richtung Rossatz in der Wachau, wo seine Lebensgefährtin Karin W. wohnt. Bei Stockerau fährt er falsch auf die Autobahn auf und wird als Geisterfahrer gestoppt. Bei der Kontrolle stellt die Polizei eine Alkoholisierung fest. Pilnacek muss sein Auto bei der Raststätte stehen lassen. Ihn holt eine damalige Mitbewohnerin von Karin W. ab: eine gute Freundin, die Mitarbeiterin von Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka ist.

Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka (ÖVP) galt als Freund von Christian Pilnacek.
APA/EVA MANHART

In Rossatz angekommen, zieht er sich offenbar um, seinen Anzug verstaut er sorgsam im Schrank. Schweigsam wirkt er, heißt es, er trinkt wohl weiter und geht gegen Mitternacht spazieren. Handy, Schlüssel und Brieftasche lässt er im Haus seiner Partnerin. "Ich gehe fort", sollen seine letzten Worte gewesen sein.

Abnahme der Geräte

Eindeutig belegt ist dann erst wieder das Auffinden von Pilnaceks Leichnam. Er wird am 20. Oktober frühmorgens an einem Seitenarm der Donau unweit von W.s Haus von Arbeitern entdeckt.

Was in den Stunden zwischen dem Verlassen des Hauses und seinem Auffinden passiert ist, ist nicht nur vor Ort Gegenstand heftiger Spekulationen. Die Amtsärztin soll den Todeszeitpunkt zunächst auf sechs Uhr früh festgelegt haben, berichten Involvierte. Pilnacek wäre also bis frühmorgens unterwegs gewesen. Das bietet Stoff für Verschwörungstheorien, in Rossatz kursieren dazu auch einige. Offiziell soll es später heißen, Pilnacek sei ertrunken.

Klar ist, dass rasch Polizeibeamte bei Karin W. auftauchten und das Aushändigen von Pilnaceks persönlichen Gegenständen verlangten. Im Hintergrund wird von einem "Routinevorgang" gesprochen. Pilnacek war zwar mit W. offen liiert, offiziell aber nach wie vor mit der Juristin Caroline List verheiratet. Sie hat das gesetzliche Erbrecht, gemeinsam mit Pilnaceks Kindern aus einer früheren Ehe. In ihrer Wohnung habe es keine Durchsuchung gegeben, sagte Pilnaceks Witwe nun zum "Kurier". "Die einzigen, die in der Wohnung waren, waren meine Kinder und ich." Sie bestätigte, dass Beamte Gegenstände bei W. abgeholt hätten. Wohnungs- und Autoschlüssel, Geldtasche und Handy seien einem Anwalt übergeben worden, in dessen Kanzlei hätten ihre Kinder die Gegenstände später abgeholt.

Kurz-Telefonat am Vorabend

Ob alle nahen Familienmitglieder rechtzeitig informiert worden waren, bevor sich die Nachricht medial verbreitete, ist unklar. Der Tod Pilnaceks löste sofort großes Aufsehen aus und wurde rasch zum Suizidfall erklärt. Schon am späten Vormittag verbreitete die "Kronen Zeitung", Pilnacek habe "seinem Leben selbst ein Ende gesetzt". Ex-Kanzler Sebastian Kurz, der während seines Falschaussageprozesses vom Tod Pilnaceks erfuhr, erklärte nach Ende der Verhandlung: "Ich habe gestern Abend noch mit ihm telefoniert, und wenige Stunden später hat er sich das Leben genommen."

Das Obduktionsergebnis wird einen Monat nach Pilnaceks Tod bekannt: Suizid oder Unfall, heißt es, Fremdverschulden ausgeschlossen.

Als fragwürdig empfinden manche Einheimische das Verhalten der Polizei bei der Bergung des Toten. Unter anderem sollen Beamte angeblich dafür plädiert haben, keine Obduktion vorzunehmen, die anwesende Ärztin soll allerdings darauf bestanden haben. So erzählen es mehrere Personen, die Medizinerin ließ eine Gesprächsanfrage von STANDARD und "Spiegel" unbeantwortet. Eine Spurensicherung soll nicht stattgefunden haben, erzählen Anwohner. Feuerwehrleute sollen zur Verschwiegenheit angehalten worden sein.

Opposition will Aufklärung

Neue Bewegung kommt erst vor ein einigen Wochen in den Fall. Nach und nach spricht sich herum, dass die Vorgänge nach dem Auffinden der Leiche Fragen aufwerfen. Die Schilderungen der Menschen in Rossatz und Umgebung haben in den letzten Wochen auch den Antikorruptionsexperten Martin Kreutner erreicht. Kreutner bringt darauf eine Sachverhaltsdarstellung bei der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) ein, die das Verhalten der Polizei und anderer staatlicher Organe durchleuchten soll. Auch SPÖ, FPÖ und Neos haben entsprechende parlamentarische Anfragen angekündigt.

Kreutner
Martin Kreutner leitet eine U-Kommission zum Thema Justizinterventionen.
APA/EVA MANHART

Das Kreutner-Gremium recherchierte ursprünglich nicht rund um den Tod von Pilnacek. Die Kommission geht dem Verdacht nach, ob von politischer Seite versucht wurde, unrechtmäßigen Einfluss auf den Staatsdiener zu nehmen. Über solche Interventionen berichtete Pilnacek wenige Monate vor seinem Ableben einer Audioaufnahme zufolge, die ohne sein Wissen entstand und erst posthum veröffentlicht wurde. Darin wird vor allem Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka schwer belastet. Der ÖVP-Politiker weist alle Vorwürfe von sich.

Mysteriös und verworren ist die Causa Pilnacek. Die Dynamik der letzten Tage wirft immer neue Fragen auf. Da ist etwa der silberne USB-Stick, auf dem Pilnacek offenbar wichtige Informationen gespeichert hat und den er seiner Lebensgefährtin zufolge stets bei sich hatte. Wo ist das Speichermedium hin?

Sobotka schweigt

Wie relevant der Datenträger sein dürfte, legen manche Dokumente nahe, die Pilnacek hinterlassen haben soll. Darunter soll sich eine anonyme Sachverhaltsdarstellung von hoher Brisanz befunden haben: Darin ist auf drei Seiten von einem Spitzenpolitiker die Rede, der vor vielen Jahren angeblich betrunken versucht haben soll, eine Mitarbeiterin zu vergewaltigen.

Offen bleibt bislang auch, mit wem der Jurist kurz vor seinem Tod eifrig Chatnachrichten geschrieben hat. Denn kolportiert wird, Pilnacek habe wild auf seinem Handy getippt. Mit Ex-Kanzler Sebastian Kurz soll er am frühen Abend telefoniert haben. Ob Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka in der Todesnacht Kontakt mit ihm hatte, will er nicht sagen. Eine zweimal an ihn gerichtete Anfrage von STANDARD und "Spiegel" ließ der ÖVP-Politiker bisher unbeantwortet. Naheliegend wäre es nicht nur, da Sobotkas Mitarbeiterin Pilnacek nach seiner Alkoholfahrt abgeholt hat. Es gäbe noch einen zweiten Grund: Zwischen dem Spitzenbeamten und dem Spitzenpolitiker bestand ein besonderes Naheverhältnis, wie Sobotkas Büro 2021 erklärte: Christian Pilnacek sei "seit langer Zeit ein persönlicher Freund des Präsidenten". (Oliver Das Gupta, Michael Nikbakhsh, Fabian Schmid, 28.3.2024)