Die Schränke sind schon leergeräumt, nur noch ein paar Gesetzesbücher füllen die Regale: Maria-Luise Nittel macht ihr Büro für ihre Nachfolgerin besenrein. Nach 14 Jahren an der Spitze der Staatsanwaltschaft Wien geht sie nun in den Ruhestand. DER STANDARD hat sie für ein Abschiedsinterview getroffen.

STANDARD: Sie waren 14 Jahre lang Chefin der größten Staatsanwaltschaft Österreichs. Was würden Sie rückblickend anders machen?

Nittel: Ich habe im Lauf der Jahre dazugelernt, dass man nicht mit dem Kopf durch die Wand gehen kann, sondern Probleme langsam angehen sollte. So viel würde ich aber gar nicht anders machen.

STANDARD: Wo waren Sie denn zu forsch?

Nittel: Als ich begonnen habe, waren die Folgen der Wirtschaftskrise 2008 ein großes Problem. Da kamen große Wirtschaftsverfahren auf, und es ging immer um die Frage der Kapazitäten in unserer Wirtschaftsgruppe. Da habe ich gefragt, wo wir denn Fälle liegen lassen sollen: bei Gewalt in der Familie oder in Sachen organisierte Kriminalität? Das hätte ich ein bisschen sensibler angehen können.

"Schade, dass sich jemand dafür hergibt", sagt Maria-Luise Nittel zu den Chats ihrer Ex-Vorgesetzten Pilnacek und Fuchs.
Foto: regine hendrich

STANDARD: Heute arbeiten bei der StA Wien 119 Staatsanwälte, 54 Bezirksanwälte und 103 weitere Beschäftigte. Für Schlagzeilen sorgt meist aber die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA). Sie wurde von der Politik und justizintern attackiert. Hat das auf den Stand der Staatsanwälte insgesamt abgefärbt?

Nittel: Der ist natürlich angepatzt worden. Ich bin gegen diese Verpolitisierung der Justiz: Staatsanwälte bearbeiten Verfahren, das ist ihr Job, und den muss man sie machen lassen.

STANDARD: Wird die Justiz nur aus politischen Gründen angeschwärzt?

Nittel: Ja, ich denke doch.

STANDARD: Die Justiz ermittelte nicht nur gegen hochrangige Politiker, sondern auch gegen "eigene" Beamte wie Sektionschef Christian Pilnacek oder den Chef der Oberstaatsanwaltschaft Wien, Johann Fuchs. Sie sind Ihre Vorgesetzten. Wie war das für Sie?

Nittel: Das war zugegeben eine schwierige Situation. Aber wenn man einen Anfangsverdacht hat, muss man Kollegen genauso behandeln wie alle anderen, so unangenehm es ist.

STANDARD: Welches Gefühl hat man dabei?

Nittel: Das Gefühl, das Richtige zu tun. Weil Gesetz ist Gesetz: für alle gleich.

STANDARD: Was haben Sie sich gedacht, als Sie die Chats zwischen Fuchs und Pilnacek gelesen haben, in denen sie auch abfällig über die WKStA gesprochen haben?

Nittel: Wie schade, dass jemand, der so eine gute Position hat und das Gesetz so gut kennt, sich dafür hergibt.

"Ja, das Böse gibt es. Ich glaube, (...) es könnte fast jeder eine Straftat begehen", sagt Maria-Luise Nittel.
Foto: regine hendrich

STANDARD: Sie waren ja auch in der Kommission zur Bundesstaatsanwaltschaft, die als neue Oberbehörde kommen soll. Da geht aber gar nichts mehr weiter.

Nittel: Da gibt es offenbar eine politische Pattstellung: Die Justizministerin schließt sich dem Modell der Arbeitsgruppe an und befürwortet einen Dreiersenat, der über Weisungen entscheidet. Der Koalitionspartner möchte hingegen eine Person an der Spitze, über deren Bestellung die demokratischen Organe mitbestimmen sollen.

STANDARD: Sie sind dagegen?

Nittel: Absolut. Bitte die Politik aus den Besetzungen von Spitzenposten möglichst raushalten. Da sind sich alle Staatsanwälte einig.

STANDARD: Sehen Sie eine Lösungsmöglichkeit?

Nittel: Derzeit nicht. Die Staatsanwälte müssen aufpassen, dass es nicht schlechter wird für sie. Denn jetzt gibt es den Weisungsrat als gewisses Korrektiv, der seine Arbeit sehr ernst nimmt und das gut macht. Wenn er dann wegfällt und tatsächlich ein unter Einfluss der Politik bestellter Bundesstaatsanwalt kommt, ist das keine Verbesserung.

STANDARD: Gab es bei Ihnen Versuche politischer Einflussnahme?

Nittel: Nein, bei mir hat es niemand versucht.

STANDARD: Die ÖVP macht eine Stärkung der Beschuldigtenrechte zur Bedingung für die Justizreform. Braucht es das?

Nittel: Die Beschuldigtenrechte sind ausreichend und werden auch genützt. Und was die Auswertung von Chats betrifft: Die Standesvertretung hat überhaupt keine Bedenken dagegen, wenn die eine richterliche Bewilligung voraussetzt.

STANDARD: Wenn man an Chats denkt, fallen den meisten wohl die Nachrichten von Ex-Kanzler Sebastian Kurz oder Thomas Schmid ein, mit denen die WKStA zu tun hat. Welche Rolle spielen Chats denn bei der StA Wien?

Nittel: Eine sehr, sehr große – etwa bei Terrorismus oder Kinderpornografie.

STANDARD: Manche Verfahren dauern sehr lange. Zu lange?

Nittel: Die Justiz kann immer nur so schnell und so gut arbeiten, wie die Politik, die für sie verantwortlich ist, es will. Selbstverständlich könnten wir schneller sein, wenn wir mehr Ressourcen hätten.

STANDARD: Gilt das in Ihren Augen auch für das Verfahren rund um die Meinl European Land? Das ist bei Ihnen seit fast 15 Jahren anhängig.

Nittel: Da muss man schon fragen, warum es so lange läuft. Dafür gibt es objektive Gründe, etwa Auslandsbezug und unendlich viele Daten – und die Ausschöpfung aller Rechtsmittel.

STANDARD: Noch zur Justizreform: Die ÖVP will, dass Medien nicht mehr direkt aus Ermittlungsakten zitieren dürfen. Wie sehen Sie das?

Nittel: Wir haben uns damit schon einige Male auseinandergesetzt, weil es das ja in Deutschland gibt. Aber ob das wirklich so viel bringt? Eine sensiblere Berichterstattung ohne Vorverurteilungen wäre besser.

STANDARD: Rechtsanwälte dürfen für ihre Mandanten mit Medien reden und Akten weitergeben, die Polizei veröffentlicht nach spektakulären Verbrechen Informationen. Die Justiz ist dagegen recht schweigsam. Müsste sie mehr erklären?

Nittel: Das ist eine Gratwanderung zwischen öffentlichem Interesse und dem Wahren von Persönlichkeitsrechten, das ist oft schwierig. Ein Ermittlungsverfahren ist eben nicht öffentlich und man darf keine Rechte der Betroffenen verletzen. Manchmal ist es frustrierend, wenn wir keine Antworten geben dürfen. Aber die Hauptverhandlung ist dann ja öffentlich.

STANDARD: Was war das spektakulärste Verfahren in Ihren 14 Jahren in der StA Wien?

Nittel: Das Ibiza-Verfahren samt Untersuchungsausschuss.

STANDARD: Sie haben ja auch sehr aufwühlende Causen im Haus. Stumpft man da ab, oder kann man sich an Fälle wie den der 13-jährigen Leonie, die vergewaltigt wurde und an einer Überdosis starb, gewöhnen?

Nittel: Nein. Gerade im Fall Leonie habe ich auch persönlich versucht, die Staatsanwältin zu unterstützen, die das schon sehr mitgenommen hat. Oder der Mord an der Trafikantin, die angezündet wurde, das war ganz ein schreckliches Verfahren. Ich hatte als Staatsanwältin auch solche Verfahren, die lassen einen schon ein bisschen nicht schlafen, da müssen Kollegen einander unterstützen.

STANDARD: Beginnt man da, an das Böse im Menschen zu glauben?

Nittel: Ja, das Böse gibt es. Ich glaube, unter bestimmten Lebensumständen könnte fast jeder eine Straftat begehen.

STANDARD: Haftstrafen bewirken aber oft nichts. Sperren wir zu viel ein?

Nittel: Es ist Aufgabe der Justiz, Gesetze zu vollziehen. Wenn ein Gesetzgeber will, dass viel eingesperrt wird, dann müssen wir das tun. Es ist aber nicht gut, ins Gefängnis zu müssen. Mehr Therapie wäre sinnvoll und mehr Geld für Gewaltprävention ebenso.

STANDARD: Haben Sie eigentlich nie überlegt, die Seiten zu wechseln und Anwältin zu werden?

Nittel: Nein, und ich glaube, der Wechsel von Staatsanwaltschaft zu Anwaltschaft ist viel schwerer als umgekehrt. Staatsanwälte wollen die Wahrheit herausfinden, Anwälte sind an das gebunden, was ihr Mandant will. Wenn der sagt, "Ich bin schuldig, aber hauen Sie mich da raus", dann müssen Sie das auch tun.

STANDARD: Dafür wird man als Anwalt aber auch gut bezahlt.

Nittel: Aber geht’s im Leben immer ums Geld, bitte schön? Also mir nicht.

STANDARD: Und ein Wechsel auf die Richterbank?

Nittel: Nein, nein, das hat mich nie interessiert. Als Staatsanwalt bekommen Sie einen Sachverhalt von der Polizei ein bisschen aufbereitet und können etwas daraus machen. Sie können entscheiden, ob eine Diversion möglich ist oder ob man zu Gericht geht – es gibt also immer Gestaltungsmöglichkeiten. Man macht aus dem konkreten Leben etwas Juristisches. Richter bekommen eine Causa pfannenfertig von der Staatsanwaltschaft auf den Tisch.

STANDARD: Sie waren jetzt fast vierzig Jahre in der Justiz. Was werden Sie denn nicht vermissen?

Nittel: Die Probleme, die die Renovierung des Straflandesgerichts jetzt bringt. Ich werde auch nicht vermissen, dass drei Telefone gleichzeitig läuten. Oder wenn sehr viele Fragen auf einmal auftauchen. Aber vielleicht werde ich es auch vermissen, wenn mich niemand mehr etwas fragt. (Renate Graber, Fabian Schmid, 2.5.2023)