Bild nicht mehr verfügbar.

Wer in Statistiken als arm gilt, ist Auslegungssache. Auch dürften viele Menschen durch offizielle Statistiken fallen.

Foto: apa/fohringer

Wien – Dass es in Österreich immer mehr arme Menschen gibt, ist für viele eine gesicherte Tatsache. Schließlich steckt Europa seit Jahren in der Krise, die Einkommen stagnieren und die heimische Arbeitslosigkeit ist auf einem Höchststand. Wer aber einen genauen Blick auf die Statistiken wirft, stellt fest: Das Sozialsystem hat hierzulande seinen Dienst getan. Österreich hat die jüngsten Krisenjahre ohne einen Anstieg der Armut hinter sich gebracht, sagt einer der ausgewiesensten Sozialexperten im Land, Martin Schenk.

Mit dem laut Schenk verlässlichsten Indikator kommt man in Österreich auf etwa 400.000 arme Menschen. Dabei werden all jene als arm gezählt, die nur geringe Einkommen haben und sich bestimmte Dinge nicht leisten können. Dieser Wert ist seit 2008 etwa unverändert. Soziale Phänomene wie die Armut in Zahlen zu gießen ist aber nur beschränkt möglich. Viele Menschen fallen durch die offiziellen Statistiken, sagt Schenk. Aber auch die Zahlen, die man hat, bergen einige Unwägbarkeiten. Was können uns Statistiken über die Entwicklung der Armut in Österreich sagen und was nicht? Der Versuch einer Annäherung.

Seit 2008 ist die offizielle Armutsgefährdung in Österreich von 15,2 Prozent auf 14,4 Prozent zurückgegangen. Dabei gilt als armutsgefährdet, wer weniger als 60 Prozent des typischen Einkommens (Median) hat. Der Sozialwissenschafter Marcel Fink kann sich den starken Rückgang der Armutsgefährdung von 2008 auf 2009 nicht erklären. "Wenn man es sich aber unter dem Strich ansieht, ist die Armut während der Krise in Österreich nicht gestiegen", sagt der Forscher, der beim Institut für Höhere Studien (IHS) arbeitet. Die kleinen Schwankungen bei der Quote seien im Rahmen der statistischen Streuung.

Ein österreichischer Ein-Personen-Haushalt galt 2013 als armutsgefährdet, wenn er weniger als 1.100 Euro im Monat verdiente. Diese Grenze ist seit 2008 um mehr als zehn Prozent gestiegen, weil auch das typische Einkommen gestiegen ist. "Im Prinzip ist die Armutsgefährdung ein Indikator für Ungleichheit", sagt IHS-Mann Fink. Sie misst nicht, ob man sich Alltagsgüter leisten kann, sondern wie viel man relativ zum Rest der Bevölkerung verdient. Es spreche aber viel dafür, Armutsgefährdung so zu definieren, sagt Fink. "Armut misst man an der Teilhabe am gesellschaftlich Üblichen." Wer an einer Gesellschaft nicht teilhaben könne, fühle sich ausgeschlossen.

Weil sich die Armutsgefährdung an den Einkommen innerhalb eines Landes orientiert, ist der internationale Vergleich mit Vorsicht zu genießen. Die Grenze für einen österreichischen Ein-Personen-Haushalt ist fast achtmal höher als die für einen bulgarischen.

Armut misst man nicht nur am relativen Einkommen. Unter einer anderen Definition, der materiellen Deprivation, versteht man etwa, dass man sich für eine Gesellschaft übliche Güter nicht leisten kann. Darunter fällt etwa der Konsum von Fleisch, die Bewältigung unerwarteter Ausgaben in der Höhe von 1.050 Euro oder der Kauf eines Fernsehers. Wichtig ist dabei: Wer keinen Fernseher hat, gilt nicht als arm. Nur wer sich ein solches Gerät gemeinsam mit anderen Gütern nicht leisten kann, wird als arm eingestuft.

Auch diese Statistik birgt aber Rätsel. So stieg die so definierte Armut schon vor der Finanzkrise schlagartig an, um dann während der Krise wieder stark zu sinken. Fink hält den großen Anstieg 2008 für unrealistisch. "Mitten in der Krise sind dann wieder 100.000 Menschen aus der Armut raus", sagt der Forscher. "Das ist sehr seltsam." Auch bei der Statistik Austria ist man sich nicht sicher. Der Statistiker Matthias Till erklärt es sich mit der damals gestiegenen Inflation, auch die Verschuldung der Haushalte sei besonders hoch gewesen. Jedenfalls ist die so gemessene Armut derzeit etwas höher als noch vor acht, neun Jahren. In der Krise ist sie aber nicht gestiegen.

Geht es darum, wie viele Menschen sich etwa keine Waschmaschine, keinen Farbfernseher oder Pkw leisten können, liegt Österreich im internationalen Vergleich gut. Auch wenn Menschen in anderen reichen Länder wie etwa Schweden oder die Schweiz deutlich geringere Probleme damit haben. In Österreich lag die Quote 2013 bei 4,2 Prozent, in der Schweiz nur bei einem Prozent. In Bulgarien lag die so gemessene Armut 2013 bei 43 Prozent.

Für den Diakonie-Experten Martin Schenk lässt sich Armut am besten mit der Definition der "Mehrfach-Ausgrenzungsgefährdeten" messen. Darunter fallen Menschen, die zwei von drei der folgenden Kriterien erfüllen: Sie verdienen wenig, können sich bestimmte Güter des alltäglichen Lebens nicht leisten (materielle Deprivation) und leben in einem Haushalt, in dem wenig bis gar nichts durch Arbeit eingenommen wird. "Die haben wirklich große Probleme, sowohl materiell als auch sozial", sagt Schenk. Auch hier kann man in der Statistik nicht weiter zurück als bis 2008. Man könne aber davon ausgehen, dass die Armut in den vergangenen zehn Jahren nicht gestiegen ist, sagt Schenk. Dafür sei das soziale Netz in Österreich verantwortlich. Er hält aber fest: "400.000 Menschen in existenziell schwierigsten Lebensbedingungen sind für ein so reiches Land wie Österreich aber in jedem Fall zu viel."

Die am weitesten gefasste Definition ist die der Armuts- und Ausgrenzungsgefährdeten. Hierzulande fielen 2013 1,57 Millionen Menschen in diese Kategorie. Darin sind all jene, die eine der drei folgenden Kriterien erfüllen: Einkommensarmut, materielle Deprivation oder geringe Erwerbsintensität. Seit 2008 ist sie stark zurückgegangen. 127.000 armutsgefährdete Menschen gäbe es demnach weniger. Hier schlägt sich aber dasselbe Problem wie zuvor durch: Ignoriert man den Wert für 2008, dann ist die Armut in etwa gleich geblieben. Ganz genau sind diese Zahlen sowieso nicht, sagen Statistiker. Sie sind nur eine Hochrechnung, kleine Schwankungen dürfe man also nicht überinterpretieren.

Die Zahl jener Menschen, die trotz Jobs armutsgefährdet sind, ist bis 2010 gesunken, dann leicht gestiegen und dann wieder gesunken. Hier gilt es besonders aufzupassen, sagt die für die Befragung zuständige Statistikerin, Nadja Lamei. Wenn die Zahl der "working poor" sinke, müsse das nicht automatisch ein gutes Zeichen sein. Während der Krise hätten viele ihre schlecht bezahlten Jobs verloren und seien damit aus dieser Kategorie gefallen. Armutsgefährdet blieben sie aber trotzdem. Berücksichtigt man die statistische Schwankungsbreite, ist die Zahl der "working poor" seit 2010 wieder etwas gestiegen. Lamei warnt aber davor, kleine Anstiege und Rückgänge überzuinterpretieren.

Besonders von Armuts- und Ausgrenzungsgefährdung betroffen sind in Österreich Ein-Personen-Haushalte, arbeitslose Menschen sowie Migranten. Auch bei Vorliegen einer Behinderung im Haushalt und bei Menschen mit maximal einem Pflichtschulabschluss liegt die Armuts- und Ausgrenzungsgefährdung deutlich über dem Schnitt der Bevölkerung.

Vorsicht mit Statistiken

Hantiert man mit Statistiken bezüglich der Armut, ist jedenfalls Vorsicht geboten. Indikatoren wie die materielle Deprivation beruhen auf Befragungen, kleine Schwankungen sind also nicht aussagekräftig. Sinkt die Armut um 25.000 Menschen oder 0,3 Prozentpunkte, ist das eine schöne Nachricht für Politiker. Es könnte aber auch nur eine Bewegung innerhalb der statistischen Schwankungsbreite sein. Laut Martin Schenk fallen außerdem zehntausende Menschen aus der Statistik, die in Notunterkünften, Psychiatrien und Alterswohnheimen wohnen. Gerade diese Gruppe sei aber stark armutsgefährdet, sagt Schenk.

Ein anderes Problem: Armutsstatistiken bereinigen Einkommen mit der durchschnittlichen Inflation. Weil die Teuerungsrate für Ärmere in den vergangenen Jahren überdurchschnittlich war (vor allem Mieten und Lebensmittel sind im Preis gestiegen), ist die wahre Armutsgefährdung wahrscheinlich um einiges höher. Die Armut steigt in Österreich auch durch die Einwanderung. Weil Migranten meist niedrigere Einkommen haben, heben sie die Armutsgefährdung. Wer Armut an nur einer Statistik beurteilt, lässt all diese Faktoren unberücksichtigt. (Andreas Sator, derStandard.at, 14.1.2014)