"Wir haben die absurde Situation, dass Politiker den Privatsendern Interviews geben und dort das Aus für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk verteidigen", sagt Katherine Sarikakis über die Einstellung des Senders ERT in Griechenland.

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Viele Stimmen weniger, die Kritik an der Regierung und ihrem Krisenmanagement üben: Für Katherine Sarikakis, Professorin am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Uni Wien, ist die Intention klar - Griechenlands Regierung habe die öffentlich-rechtliche Sendeanstalt ERT geschlossen, um kritischem Journalismus das Wasser abzugraben. Dass Privatsender dieses Vakuum füllen können, glaubt die gebürtige Griechin im Interview mit derStandard.at nicht.

derStandard.at: Ist die Schließung des Senders wirklich so überraschend gekommen, oder war diese Entwicklung nicht doch absehbar?

Sarikakis: Es hat zwar in den letzten Wochen Gerüchte gegeben, absehbar war es aber trotzdem nicht. Der zuständige Minister hat Schließungsabsichten immer dementiert. Die Entscheidung, den ERT abzudrehen, wurde erst Dienstag publik. Seit Dienstag um 23.15 Uhr existiert der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Griechenland nicht mehr. Sie senden nur noch für das Internet.

derStandard.at: Die EU betont, dass sie die Schließung nicht verlangt hat. Warum hat sich die griechische Regierung dafür entschieden?

Sarikakis: Über die echte Motivation wissen wir nicht Bescheid. Die offizielle Begründung war, dass die griechische Regierung den politischen Willen für Veränderungen demonstrieren wollte. Radikale Veränderungen, die auf zwei Ebenen wirksam sind. Zum einen, dass sie Staatsbedienstete entlassen können, weil sie nicht effektiv sind. Zweitens war der Rundfunk ERT nicht effektiv im Wirtschaften, wie es offiziell heißt. Obwohl es vor kurzem noch geheißen hat, dass der Sender keine Schulden macht. Der Plan war, dass die Ressourcen durch Reformen besser verteilt werden, um die Produktivität zu steigern. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Griechenland hat eine sehr moderne Ausstattung, er gilt als Qualitätsmedium.

derStandard.at: Ein Umstand, der der Regierung nicht passt?

Sarikakis: Die ERT-Journalisten haben immer wieder das Krisenmanagement und die sozialen Auswirkungen der Krise kritisiert. In der Vergangenheit gab es schon Versuche, sehr kritische Journalisten zu entlassen. Aufgrund von Gesetzen mussten diese wieder rückgängig gemacht werden. Viele sehen das jetzt als politisches Manöver, um Kritik auszuschalten. Man muss das im Kontext der griechischen Medienlandschaft sehen. Die Privatsender können keineswegs den Verlust des öffentlich-rechtlichen Senders kompensieren.

derStandard.at: Sie sind also der Meinung, dass das Abdrehen weniger aus wirtschaftlichen Gründen geschieht, sondern aufgrund der Kritik, die der Sender an der Regierung übte?

Sarikakis: Man kann Strukturen immer optimieren, natürlich, aber der ERT schreibt keine Verluste. Das kann also nicht der Hauptgrund sein. Überhaupt ist das Aus erst möglich, weil kürzlich ein Gesetz verabschiedet wurde, das es Ministerien erlaubt, öffentliche Einrichtungen zu schließen. Es beginnt also mit dem ERT, was symbolisch sehr wichtig ist. Die Rundfunkanstalt wurde 1938 gegründet, wirklich frei ist der Sender seit dem Jahr 1974. Er repräsentiert also auch die demokratische Kultur. Die Schließung erinnert auch deswegen an dunklere Zeiten. Gleichzeitig mit dem ERT werden noch 20 bis 25 andere öffentliche Institutionen geschlossen, die jetzt nicht mehr so große Aufmerksamkeit bekommen werden. Man muss das in diesem Kontext sehen, politisch und sozial ist das eine Katastrophe.

derStandard.at: Einfach "nur" das Personal zu reduzieren war keine Option?

Sarikakis: Sie haben schon so viele Leute entlassen, dass es gar nicht mehr als so katastrophal gesehen werden würde. Diese Radikalität verstehe ich nicht. Ich habe kein Verständnis dafür, dass man öffentlich-rechtliche Sender als gesellschaftliche Institutionen in Frage stellt. Der Output des Mediums war von der Qualität her das mit Abstand Beste in dieser Krise.

derStandard.at: Der "Neustart" soll mit rund 1.000 Mitarbeitern erfolgen. Kann eine öffentlich-rechtliche Anstalt, die drei TV-Sender und mehrere Radioprogramme betreibt, mit dieser Größe den Kernauftrag erfüllen?

Sarikakis: Ich glaube nicht. Geografisch gesehen ist Griechenland ein langgestrecktes Land mit vielen Inseln und Bergen. Mit weniger Sendestationen und weniger Personal wird man schwer alle erreichen können. Qualität und investigativer Journalismus werden auf der Strecke bleiben. Was der ERT leistet, kann kein Privatsender übernehmen. Also bis auf die letzte Insel, bis ins letzte Dorf zu senden und den politischen, kulturellen Auftrag zu erfüllen.

derStandard.at: Wie stehen Griechenlands Privatsender in Sachen Meinungsvielfalt und Kritikfunktion da?

Sarikakis: Wir haben die Berichterstattung über die Krise untersucht und sind zu dem Schluss gekommen, dass die Ausgewogenheit fehlt und die Kritik nicht scharf genug ist. Die Privatsender machen selber Verluste, sie sind verknüpft mit Unternehmen und Interessen. In Zeiten einer Krise, des Umbruchs reicht das nicht. Es gibt auch ein Schweigen im Privat-TV über Repressionen, denen kritische Journalisten ausgesetzt sind.

derStandard.at: Weil?

Sarikakis: Die Interessen der Privatmedien kollidieren mit anderen Interessen, sie sind viel zu sehr verwoben.

derStandard.at: Alle Mitarbeiter sind jetzt entlassen, für den "neuen" Sender werden gut 1.000 Neue gesucht, die Alten können sich wieder bewerben, heißt es. Haben die kritischen überhaupt eine Chance, wieder zum Zug zu kommen? Die Rekrutierung erfolgt über ein Gremium, das von der Politik dominiert ist.

Sarikakis: Das lässt sich schwer sagen, aber wahrscheinlich nicht. So funktioniert Politik.

derStandard.at: Braucht jedes Land einen starken öffentlich-rechtlichen Sender?

Sarikakis: Ja, natürlich. Der Sender sollte im besten Fall unabhängig sein. Politische Einflussnahmen oder den Versuch der Intervention gab es auch in Griechenland ständig, aber man muss das abwehren. Die jetzige Situation ist komplett scheinheilig, weil der Staat auf der einen Seite sagt, dass die Effizienz fehlt, und sich auf der anderen Seite ständig einmischt.

derStandard.at: Wie wird es in den nächsten Tagen weitergehen? Auch die Privaten haben sich solidarisch erklärt und die Schließung stark kritisiert.

Sarikakis: Momentan streiken die Journalisten. Ich vermute, dass es eine weitere Mobilisierung geben wird und dass sich dieses Mal auch die kulturelle Elite lauter zu Wort melden wird. Der nationale Druck auf die Regierung wird steigen. Wir haben ja die absurde Situation, dass Politiker den Privatsendern Interviews geben und dort das Aus für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk verteidigen. Ein Teil der öffentlichen Debatte ist einfach weg. Ich kenne kein anderes Land in Westeuropa, wo das der Fall ist. Das ist nicht nur radikal, das hat diktatorische Züge. (Oliver Mark, derStandard.at, 12.6.2013)