Bild nicht mehr verfügbar.

"Zu einem Kindergeburtstag wird er nur einmal eingeladen", meint der Vater. Christoph habe nun einmal Probleme, sich bei den Spielen an die Regeln zu halten, tanzt sozusagen aus der Reihe, was als anstrengend empfunden wird.

Foto: REUTERS/Bogdan Cristel

Nur noch eine einzige Spiralnudel liegt auf dem Teller. Als Christoph sie aufspießen will, flutscht sie ihm von der Gabel und fällt über den Tellerrand auf den Tisch. Schnell pickt der Bub sie auf und schiebt sie sich in den Mund. "Fertig", ruft er seiner Mutter zu, die ihn und seinen jüngeren Bruder daran erinnert, dass auch noch der Tomatensalat gegessen werden muss. "Mindestens fünf Stück", lautet die Vorgabe. Das überhören die zwei Buben geflissentlich, stehen vom Mittagstisch auf, räumen die Teller in die Küche. Danach geht es in den Garten, die drei Meerschweinchen der Familie füttern.

"Heute ist ein guter Tag", sagt die Mutter, nachdem Christoph die Balkontür hinter sich zugezogen hat. Heute hat sie keine Warnung per SMS an die Lehrerin geschickt. Das ist etwa der Fall, wenn der Elfjährige schon in der Früh beim Anziehen ausflippt, weil ihn das Markerl im T- Shirt so kratzt, dass er das Bedürfnis hat, es abzureißen.

Unruhig und zappelig

Dass ihr zweitgeborenes Kind "anders ist", bemerkten sie und ihr Mann schnell. "Er war als Baby unruhig, im Kindergarten zappelig." Zuerst erklärten sie sich sein Verhalten als typisch für ein Sandwichkind, das sich zwischen der großen Schwester und dem kleinen Bruder seine Position in der Familie zu erstreiten versucht.

Doch als Christoph in die Schule kam, stellte sich schnell heraus: Die Ursache für sein Verhalten musste eine andere sein. Die Lehrerin in der ersten Klasse sei noch gut damit zurechtgekommen, dass sich der Bub nur die ersten zwei Unterrichtsstunden konzentrieren konnte, mit seinem Wissen herausplatzte und nicht wartete, bis er aufgerufen wurde. Oder Anweisungen nur teilweise ausführte, weil er bei längeren Sätzen immer nur die erste Hälfte mitbekam.

"Unbeschulbar"

Nach einem Lehrerwechsel in der zweiten Klasse begannen die Probleme. Nach nur zwei Monaten war Christoph "unbeschulbar". Das Institut für Sinnes- und Sprachneurologie in Linz diagnostizierte schließlich bei ihm ADHS. Inzwischen nimmt er Medikamente gegen die Impulsivitätsspitzen - nicht zuletzt auch auf Drängen der Schule.

"Jetzt wussten wir zwar, dass unser Sohn an diese Verhaltensstörung leidet, doch eine Erleichterung war die Diagnose nicht", sagen die Eltern. Fortan sieht sich die Familie mit Stereotypen konfrontiert: "Da stimmt's doch zu Hause nicht" oder "Der Bub wird vernachlässigt, deshalb ist er so hyperaktiv".

Derartige Vorhaltungen treffen die Mutter. Sie hat aufgehört zu arbeiten, um für ihre Kinder da zu sein. Als "besondere Familie" fühle sie sich oft von ihrer Umgebung "unter Beobachtung": "Was wir tun, wird dann analysiert, das macht nervös."

Zwei Schulwechsel

Aber auch die Ignoranz einiger Lehrer gegenüber der Diagnose ADHS hat sie verletzt: "Immer sollte ich Schuld haben, wenn Christoph den Unterricht stört." So folgten zwei Schulwechsel. "Seit diesem Semester ist er nun in einer kleinen, feinen Schule", erklärt der Vater. Nur sieben Kinder, alle mit Beeinträchtigungen, sitzen in einer Klasse. "Die Schule ist cool", stimmt Christoph zu. Mittlerweile ist er vom Tierefüttern zurück, schaukelt in einem Hängesessel, lutscht ein Pfirsicheis und hört genau zu, was über ihn geredet wird. Eigentlich ist er es langsam leid, wenn schon wieder über ihn und seine Krankheit geredet wird.

Dass heute Besuch kommt, wurde schon vor Tagen am Wochenplan an der Wand im Esszimmer eingetragen. Ein großer Button mit einem Rufzeichen kündigt die Änderung des Tagesablaufs an. "Christoph muss sich rechtzeitig darauf einstellen können", sagt die Mutter.

Eine feste Struktur sei Grundvoraussetzung dafür, dass er sich selbst organisieren könne. Fehle ihm diese, werde er hektisch, aggressiv. Deshalb wurden auch noch Familienregeln aufgestellt, die gleich neben dem Wochenplan an der Wand hängen. "Das ist mir zu laut", steht neben einem brüllenden Löwenbild. " Wir haben bemerkt, dass wir die klaren Strukturen auch sichtbar machen müssen", begründet die Mutter die Zeichnungen neben den Regeln.

Streit aus Langeweile

Christoph hat genug gehört, er geht nach oben in sein Zimmer. Plötzlich ist ein lautes Donnern zu hören. Sofort springt die Mutter auf, geht nachschauen. Der Sohn hat mit der Modelleisenbahn unbeabsichtigt einen Crash gebaut, was ihn zum Toben bringt. Überhaupt ist ihm langweilig. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er deshalb anfängt, sich mit dem Bruder zu streiten. Schlichtend greift die Mutter ein, packt den älteren Sohn an der Schulter, nimmt Blickkontakt mit ihm auf. " Ich will mit dir spielen", sagt der Bub.

Freunde hat er ja nur wenige. "Drei", erklärt der Elfjährige und fängt gleich an sie aufzuzählen: "Meinen Bruder, meinen Nachbarn und Dany, der wohnt oben am Hang." Wenn das Wetter schön ist, treffen sich die Freunde dort.

Wie es mit Einladungen nach Hause aussieht? "Zu einem Kindergeburtstag wird er nur einmal eingeladen", meint der Vater. Christoph habe nun einmal Probleme, sich bei den Spielen an die Regeln zu halten, tanzt sozusagen aus der Reihe, was als anstrengend empfunden wird.

Keine spontanen Ausflüge

So unternimmt die Familie viel zusammen. Derzeit baut sie ein Baumhaus. An Wochenenden stehen Radtouren auf dem Programm, oder es wird mit einer Becherlupe Fauna und Flora erkundet. "Unser Leben ist nicht nur auf unsere Siedlung beschränkt", betont die Mutter. Lediglich spontane Ausflüge seien schwer möglich, das bringe ihren Mittleren zu sehr aus dem Gleichgewicht.

Nun möchte Christoph Trampolinspringen. Mama soll ihm alle Bälle über das Schutznetz auf die Hüpffläche schmeißen - und zwar bitte gleich. "Wenn der Hans zur Schule ging, stets sein Blick am Himmel hing": Hans Guck in die Luft, ebenfalls eine Erfindung von Heinrich Hoffmann, hat auch Konzentrationsschwierigkeiten. (Kerstin Scheller, DER STANDARD, 29.5.2013)