Rechtsphilosoph Christian Stadler erklärt einbürgerungswilligen Menschen in Österreich, wie Österreich funktioniert.

Foto: derStandard.at/mas

Wer in Österreich eingebürgert werden will, muss einen Test absolvieren. Dieser Staatsbürgerschaftstest wird derzeit überarbeitet: Künftig solle es nicht mehr nur um historisches Faktenwissen gehen, sondern verstärkt um "Werte, das Zusammenleben und die Art und Weise, wie Österreich funktioniert", heißt es im Integrations-Staatssekretariat.

Doch was sind Österreichs Werte? Mit der Suche nach Antworten auf diese Fragen wurde der Rechtsphilosoph Christian Stadler von der Uni Wien beauftragt. Das Ergebnis seiner Arbeit ist die sogenannte Rot-Weiß-Rot-Fibel, die Staatssekretär Sebastian Kurz (ÖVP) Ende April präsentierte. Stadler erklärt im derStandard.at-Interview, was er unter typisch österreichischen Werten versteht.

derStandard.at: Sie hatten die Aufgabe, Neo-ÖsterreicherInnen zu erklären, wie Österreich funktioniert. Wie geht das?

Stadler: Ich habe an der Uni 15 Jahre lang einen Willkommenskurs für Erasmus-Studierende gemacht. Das sind Jusstudenten aus ganz Europa, die von Österreich keine Ahnung haben und des Deutschen nur mäßig mächtig sind. Ich habe versucht, ihnen in 14 Tagen Österreich zu erklären, und zwar anhand der Verfassungsprinzipien. Und nach diesem Vorbild bin ich auch an die Rot-Weiß-Rot-Fibel herangegangen.

derStandard.at: Welche Eigenheiten des österreichischen Staates waren für die Erasmus-Studierenden am schwierigsten nachzuvollziehen?

Stadler: Der Föderalismus. Dass dieses kleine Österreich so bunt ist. Wir haben Gruppen gebildet zu je 40 bis 50 Leuten, und jede Gruppe musste ein Bundesland präsentieren. Sie haben Trachten, Lieder, Wein aus den Bundesländern vorgeführt. So haben sie gesehen, wie bunt dieses kleine Land ist. Und so haben wir nach und nach alle Verfassungsprinzipien durchgenommen: neben Föderalismus auch Demokratie, Republik, Rechtsstaat, Gewaltenteilung, Liberalismus.

derStandard.at: Staatssekretär Kurz hat angekündigt, dass es beim Test zukünftig eher um Werte gehen wird. Föderalismus und Gewaltenteilung sind wohl eher nicht das, was man landläufig unter Wertvorstellungen versteht.

Stadler: Es gab mehrere Integrationsberichte, und da hieß es, die Migrantinnen und Migranten hätten Schwierigkeiten, sich einzuleben. Und die Migrantenverbände sagen: Ihr wollt, dass wir die Werte Österreichs akzeptieren, wo stehen die überhaupt, was ist das jetzt? Und dann fangen alle an, ihre persönlichen Werte und Ideologien zu nennen. Und ich habe gesagt, so geht das nicht - nehmen wir doch die Verfassung her, die steht außer Streit.

Ich habe die Grundprinzipien der Verfassung hierarchisch geordnet: Welches ist das Leitprinzip, welche anderen Prinzipien leiten sich daraus ab? Und ich sage: Das liberale Prinzip ist das wichtigste Prinzip, es ist die Schnittstelle zur Menschenwürde. Der Kern der Menschenwürde ist die Freiheit, und der Kern unseres Staates ist der Begriff der Menschenwürde.

derStandard.at: Im Gegensatz zu anderen Staaten kennt die österreichische Verfassung aber keinen Grundrechte-Katalog.

Stadler: Ja, aber wir haben eine starke verfassungsrechtliche Verankerung der Europäischen Menschenrechtskonvention.

derStandard.at: Die gilt aber auch in den Herkunftsstaaten der allermeisten AntragstellerInnen. Was ist daran das spezifisch Österreichische?

Stadler: Österreich ist Europa. Es gibt viele Überschneidungen, und das ist auch gut so. Das ist ja genau der integrationspolitische Effekt, dass sie sagen: So ganz fremd ist mir das gar nicht. Aber vielleicht hat die eine oder andere Herkunftskultur mehr Fokus auf den sozialen Zusammenhalt und weniger auf die individuelle Freiheit - und dann sehen sie: In Österreich steht doch die Freiheit auf einer höheren Stufe. Damit sollen sie sich auseinandersetzen. Außerdem ist diese Broschüre nicht nur für die MigrantInnen gedacht, sondern auch für die Österreicher und Österreicherinnen - zum Nachdenken, wie wir eigentlich funktionieren.

derStandard.at: ÖsterreicherInnen müssen diesen Test aber nicht absolvieren. Es gibt nicht einmal ein Regelfach Politische Bildung, um all diesen Inhalten ausreichend Raum zu bieten.

Stadler: Es gibt aber Möglichkeiten, das in den verschiedensten Fächern zu integrieren. Wichtig ist auf jeden Fall, dass die Zuwanderer auf einen Blick sehen, was die Staatsprinzipien Österreichs sind. Jeder Zuwanderer kommt ja aus einem anderen Kulturkreis - zum Teil autoritär geprägt, zum Teil eher religiös, zum Teil gar nicht, hoch komplex, ganz unterschiedlich.

derStandard.at: Mehr als ein Drittel der Eingebürgerten sind aber hier geboren, kommen also aus gar keinem anderen "Kulturkreis".

Stadler: Ja. Aber es ist ja gut, dass sich alle über bestimmte Fragen Gedanken machen - beispielsweise darüber, dass Freiheit ohne Verantwortung nicht denkbar ist. Da werden Sie unterschiedlichste Meinungen dazu hören.

derStandard.at: Alle, die bereits in die österreichische Staatsbürgerschaft hineingeboren wurden, müssen solche Fragen nicht beantworten können. Glauben Sie, dass die meisten 18-jährigen ÖsterreicherInnen den Test bestehen würden?

Stadler: Das Wissen sollte mehr oder weniger vorhanden sein. Es geht um rechtskulturelle Werte. Ich habe da eine erstaunliche Beobachtung gemacht, auf dem Donauturm, als es dämmrig wurde. Sie stehen da oben und sehen unten Tausende von Lichtern. Die fahren da wie von unsichtbarer Hand à la Adam Smith und folgen einem Reglement. Wenn einer ausschert, stört das sofort. Das heißt: Unsere Gesellschaft ist so hochmodern, so hochdifferenziert, so hochspezialisiert, in jeder Sekunde werden millionenfach rechtsrelevante Handlungen gesetzt. Und Millionen minus ein Prozent davon sind rechtskonform. Dabei kann keiner genau sagen, welchen Paragrafen er jetzt erfüllt, aber er erfüllt ihn. Es geht um den gelebten Rechtsethos. Und dieses Rechtsethos für die hier Geborenen noch einmal zu thematisieren, darum geht es in dieser Broschüre. Und für die Zuwanderer ist es eine Art Roadmap zu Österreich - nicht knallhartes Verfassungswissen.

derStandard.at: Dennoch bleibt es ein Wissenstest, für den man sich punktuell vorbereitet. Staatssekretär Kurz hat hingegen immer betont, es gehe um Werte - beispielsweise um die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Was hat das mit den von Ihnen genannten Verfassungsprinzipien zu tun?

Stadler: Diskriminierungsverbot, Antirassismus, Gleichstellung von Mann und Frau - das ist alles im großen Paket Menschenwürde drin. Das ganze Package Österreich ist ja eine große institutionelle Anstregung, um Menschenwürde lebbar zu machen. Wobei das natürlich auch eine Interpretation meinerseits ist. Man sagt, viele hätten Probleme bei der Integration, viele wüssten nicht, wie sie sich in die österreichischen Werte integrieren, wie sie sich hier orientieren sollen, das Frauenbild sei ein anderes, die Familienstrukturen seien anders geprägt. Und da sage ich: Ja, aber betrachten wir doch einmal das Gesamtkonzept. Und dann schauen wir, wo es punktuell tatsächlich Abweichungen gibt.

derStandard.at: Wo sehen Sie Abweichungen?

Stadler: Das ist von Land zu Land verschieden, aber das Verhältnis von Staat und Kirche ist zum Beispiel ein Thema, das Familienverständnis, die Frauenrolle. Das ist vermutlich ein Punkt, den Migranten bei uns leichter verstehen als anderswo, weil bei uns Religion durchaus auch einen öffentlichen Platz hat. Es gibt andere Systeme, wo Religion sehr dominant ist, andere, da ist Religion total verboten, beides ist bei uns nicht der Fall. Bei uns kann sich jede Religion frei entfalten.

derStandard.at: Einprägsamer als eine Broschüre sind wohl die Erfahrungen, die ich im Alltag mache. Wenn ich in Österreich erlebe, dass es zu einem Sturm der Entrüstung kommt, wenn neben Hunderten von Kirchtürmen einmal ein Minarett gebaut werden soll, wie glaubwürdig ist dann diese "freie Entfaltung" der Religion?

Stadler: Diese Fragen wird man im Einzelfall entscheiden müssen. Aber mir geht es darum zu sagen: Österreich ist ein Land, da wirst du weder schwerstens vom Staat verfolgt, wenn du für den Islam eintrittst, noch wirst du vom Staat verfolgt, wenn du gegen den Islam eintrittst. Das ist eine Diskussionskultur, ein Lernprozess.

derStandard.at: Österreich hat ein vergleichsweise restriktives Einbürgerungsrecht. Vor allem die hohen Einkommensgrenzen sorgen für Härtefälle: Menschen, die seit vielen Jahren hier leben, können nicht eingebürgert werden, kommen also ohnehin nicht mit Ihrer Fibel in Kontakt. Wie sinnvoll ist das?

Stadler: Ich bin nicht der große Experte für Staatsbürgerschaftsrecht. Aber viele Menschen würden all diese Hürden längst schaffen und stellen trotzdem keinen Antrag.

derStandard.at: Viele sind EWR-Bürger. Und dass es Menschen gibt, die kein Interesse haben, ändert nichts an den hohen Hürden.

Stadler: Ja, diese Hürden sind eine Sache, und das Staatsbürgerschaftsrecht ist hochkomplex. Jetzt ging es einmal darum, an einer Stelle eine Veränderung herbeizuführen. (Maria Sterkl, derStandard.at, 27.5.2013)