Werner Faymann im Kanzlerbüro zur neuen EU-Sicht: "Eine Schande ist es im Leben ja nur, wenn man nichts dazulernt."

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STANDARD: Herr Bundeskanzler, freuen Sie sich schon auf den EU-Gipfel in Brüssel?

Faymann: Also freuen ist nicht der richtige Ausdruck. Aber ich weiß, dass er eine Gelegenheit ist, eine stärkere Basis zu finden für eine engere Zusammenarbeit. Das wird die entscheidende Frage der Zukunft werden: Gibt es diese stärkere Zusammenarbeit, mehr Europa, oder gibt es das nicht?

STANDARD: Als Sie 2008 angetreten sind, sah es so aus, als könnten Sie mit Europa wenig anfangen. Seit ein paar Monaten haben viele den Eindruck, dass sich das geändert hat. Wie sehen Sie das selbst?

Faymann: Eine Schande ist es im Leben ja nur, wenn man nichts dazulernt. Ich bin überzeugt davon, dass ich durch viele, viele Gespräche mit Kollegen, den Regierungschefs in Europa, viel dazugelernt habe. Zum Zweiten ist das Thema, das dabei stets im Zentrum gestanden ist, die Finanzmarktkrise. Diese Krise hat so deutlich gemacht, wie stark wir alle voneinander abhängig sind. Das gilt dort, wo was schiefgeht, wo Regelungen fehlen, wo einer den anderen mitreißt. Ich möchte daher nicht warten und nichts tun, bis die Lage in Griechenland, in Spanien Portugal oder Italien vielleicht dazu führt, dass die Union auseinandergerissen wird. Ein Zerstören der Union, der Eurozone, ein Zerstören der europäischen Idee, das ist ein Gräuel für mich.

STANDARD: Haben Sie diese Zusammenhänge zu Beginn unterschätzt?

Faymann: Ich habe mich am Anfang in vielen Kritikpunkten bestärkt gesehen. Und muss auch heute immer noch sagen, dass mir diese Union sozial zu wenig ausgewogen agiert, dass wir zu Beschäftigungspolitik oder im Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit so wenig an gemeinsamen verwirklichbaren Maßnahmen beschließen. Das stört mich auch heute. Das gilt auch für die Kritik an der Nuklearenergie, an der Linie, die von Frankreich vorgegeben wird, da geht es genau in die Gegenrichtung dessen, was ich will. Das stört mich enorm.

STANDARD: Aber Sie haben lange vermieden, die EU öffentlich und offensiv zu verteidigen.

Faymann: Was dazugekommen ist, und das habe ich mit meinem Lernprozess gemeint, ist die Finanzmarktkrise, die deutlich bewiesen hat: Wenn wir nicht gemeinsam auftreten gegen Spekulation, für stärkere Finanzmarktregeln, für eine europäische Ratingagentur, für eine Finanztransaktionssteuer, und unter gewissen Bedingungen letztlich für gemeinsame Staatsanleihen, wenn wir das alles nicht gemeinsam machen, werden wir auch alle die Schwierigkeiten, das Negative, zu spüren bekommen. Das versuche ich nun in Österreich zu sagen und deutlich zu machen: Glaubt ja nicht, man kann sich schützen, indem man vor einem Problem davonläuft. Wir sind von der Finanzkrise erfasst worden, obwohl die meisten Spekulationen mit Österreich nichts zu tun hatten.

STANDARD: Kann ein Land wie Österreich aus sich heraus Probleme gar nicht mehr lösen?

Faymann: Ja, das ist eine wichtige Erkenntnis. Dort, wo die Welt immer globaler agiert, muss man sich wenigstens mit einem gemeinsamen europäischen Gegenkonzept stellen. Es darf die Union nicht in einzelne Lösungen zerfallen, wo dann der kleinste Teil nichts mehr bewirken kann.

STANDARD: Kränkt Sie das eigentlich, wenn Kritiker Ihnen vorhalten, sie würden das Amt des Kanzlers provinziell wie ein Stadtrat in Wien führen, wenn man Ihnen den berühmten Unterwerfungsbrief an die EU-skeptische "Kronen Zeitung" vorhält?

Faymann: Ich komme aus der Kommunalpolitik. Das mag der eine oder andere nicht gut finden. Aber ich bin viel unterwegs, gehe durch die Stadt, da erinnern sich viele daran, dass ich Stadtrat war. Ich war auch gerne Wohnbaustadtrat. Die europäische Ebene ist eine andere. Ein gewisses Rüstzeug gibt die Kommunalpolitik einem aber mit.

STANDARD: Was war der Auslöser, dass Sie nun eine Spur engagierter an die EU-Sache herangehen?

Faymann: Eine Spur engagierter ist nicht der richtige Ausdruck. Europa ist sowohl in meinem Herzen wie in meinem Terminkalender inzwischen ein ganz wichtiger Bereich geworden. Das hat sich aus der Frage ergeben: Was will ich, und was möchte ich durchsetzen? Das ist ohne die europäische Ebene nicht möglich. Der Bevölkerung was anderes zu versprechen, zu sagen, bei uns allein wird alles gut und gerecht, das mache ich nicht. Das Europäische, diese Kraft in Europa hat für mich große Bedeutung bekommen. Noch dazu in einer Zeit, wo ich spüre, dass es Gegner des Projekts gibt, die am liebsten hätten, dass die Union und die Eurozone möglichst rasch auseinanderbrechen und auseinandergehen.

STANDARD: 2013 gibt es Nationalratswahlen - welche Rolle wird das Europathema spielen?

Faymann: Wenn man darstellt, dass man Fragen der sozialen Gerechtigkeit, der Beschäftigung und der Stabilität, der Bekämpfung von Arbeitslosigkeit nicht nur im eigenen Land gewinnen kann, sondern eben auch auf der europäischen Ebene gewinnen bzw. verlieren kann, wenn man diesen Zusammenhang deutlich machen kann, wäre das ein wichtiger Beitrag. Genau das werde ich versuchen.

STANDARD: Wahlentscheidend?

Faymann: Es wird ein Schwerpunkt sein. Wichtig ist die Glaubwürdigkeit, dass man aufzeigt, dass es nicht geht, sich einfach auf die europäische Ebene auszureden. Man muss diese andere Ebene miteinbeziehen, die für unser Land eine wichtige Rolle spielt.

STANDARD: Sie sind der längstdienende sozialdemokratische Regierungschef in der EU. Welche Bedeutung hätte ein Machtwechsel in Frankreich im Mai zu einem sozialistischen Präsidenten Hollande?

Faymann: Wenn in zwei so starken Ländern, wie es Frankreich und Deutschland von Wirtschaftskraft, Bevölkerung und ihrer Bedeutung für die EU her sind, Sozialdemokraten an die Spitze oder in Deutschland in eine Koalitionsregierung kämen ...

STANDARD: ... die Deutschen wählen dann 2013 ...

Faymann: ... so wäre das natürlich eine unheimliche Stärkung für die Idee eines sozialen Europa. Aber ich kann nicht sagen, ob die guten Umfragen für Hollande wirklich was wert sind. Ich gehe aber insgesamt davon aus, dass Sozialdemokraten mehr Erfolge bei Wahlen haben werden. Die Herausforderung wird sein: Wie schafft es jemand, der wirtschaftlich und sozial engagiert ist, in schwierigen Zeiten auch aus der Regierungsposition heraus zu gewinnen?

STANDARD: Also Sie selber?

Faymann: Es ist natürlich so, dass, wenn man immer Sparpakte und Krisenszenarien vorlegen muss, man es als sozial, gesellschaftspolitisch engagierter Mensch schwerer hat. Das ist alles schwieriger zu vertreten als in einer Zeit, wo man der Bevölkerung sagen konnte: Es wird wirtschaftlich jedes Jahr besser, was wollt's ihr mehr? Die Herausforderung wird sein: Wie kann man Erfolge darlegen in einer Zeit, in der man nichts zu verschenken hat?

STANDARD: Was könnte Hollande in Europa konkret anders machen?

Faymann: Mehr Sozialdemokraten in Regierungsverantwortung führen dazu, dass die Regelwerke, die wir so dringend benötigen, schneller kämen. Das alles ginge mit Sozialdemokraten leichter.

STANDARD: Es würde einen Schub zur Integration geben?

Faymann: Ja, das ist am besten am Beispiel Deutschland darstellbar. Die FDP ist ein Bremser in dieser Richtung. Ein sozialdemokratischer Finanzminister war da in der Vergangenheit kein Bremser. Ich bin überzeugt davon, dass Angela Merkel schneller zu Lösungen bereit wäre, als das mit dem Koalitionspartner, den sie derzeit hat, möglich ist.

STANDARD: Die Regierung hat im Sparpaket einiges beschlossen, was in Europa noch gar nicht ausverhandelt ist, etwa 500 Millionen Euro Einnahmen aus der Transaktionssteuer. Was macht Sie so optimistisch, dass das alles kommt?

Faymann: Es gibt auf der europäischen Ebene zwei große Denkrichtungen. Die einen sagen: Wir brauchen mehr europäische Zusammenarbeit, mehr Regelwerke, mehr gemeinsame Kontrolle, um uns gemeinsam schützen zu können, um gemeinsame Politik machen zu können.

STANDARD: Sie gehören dazu?

Faymann: Ja, ganz massiv. Da gehört aber auch Jean-Claude Juncker dazu, der christdemokratische Premier von Luxemburg. Das ist über die Parteigrenzen hinweg kein Problem. Und es gibt die andere Denkrichtung, die besagt, am besten wäre weniger Steuern, der Staat nimmt sich zurück.

STANDARD: Voran die Briten?

Faymann: Genau, David Cameron ist natürlich der Hauptvertreter dieser Richtung. Daher kann man derzeit nicht versprechen, dass diejenigen, die eine Finanztransaktionssteuer fordern, sich durchsetzen werden. Aber ich glaube, dass die Vertreter dieser Steuer stärker werden. Warum? Wir können uns immer öfter treffen bei der Linie, dass wir nicht nur unsere Staatsanleihen und die Währung schützen, sondern auch auf Wirtschaftswachstum setzen sollten.

STANDARD: Also mehr ausgeben?

Faymann: Womit sollen wir denn unsere Staaten schützen, wenn wir nicht auch etwas einnehmen, in Sparzeiten? Wie soll man denn jemandem erklären, dass wir keine Mittel haben für Wachstum und für gemeinsame Schutzschirme? Aus diesem Druck heraus wird unsere Gruppe bei den Regierungschefs stärker werden.

STANDARD: Warum gibt es so wenig Initiativen der kleinen EU-Länder?

Faymann: Ich werde das in Zukunft verstärken. Ich weiß, dass man etwa mit Jean-Claude Juncker gemeinsam in einer Diskussion ganz schnell etwas vorantreiben kann. Es gibt auch den neuen Präsidenten des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, der ein sehr quirliger Typ ist beim Antreiben von Standpunkten. So gibt es viele Bündnispartner, auch die derzeitige dänische Ratspräsidentschaft. Es ist so, dass die Zusammenarbeit auf europäischer Ebene mit Persönlichkeiten, die mir nahestehen, gut möglich ist.

STANDARD: Was ist das Ziel?

Faymann: Ob es die Union und die Eurozone, so wie sie ist, in Zukunft gibt, vielleicht sogar stärker als bisher, oder ob sie so langsam auseinanderdriftet, das entscheidet sich in den nächsten zwei, drei Jahren. Und da möchte ich gerne einen aktiven Beitrag dazu leisten.

STANDARD: Welche Rolle möchten Sie in Zukunft in der Europäischen Union spielen, was ist Ihr Selbstbild davon?

Faymann: Ich würde später gerne einmal sagen können, dass ich mich voll dafür eingesetzt habe, dass dieses Europa stärker wird an Gemeinsamkeiten, für Beschäftigung, für sozialen Ausgleich und für Wettbewerbsfähigkeit. Beim Zusammenführen von wirtschaftlich und gerecht, wenn wir dabei erfolgreich sind, dann habe ich einen richtigen Beitrag geleistet. (Thomas Mayer, DER STANDARD, Printausgabe, 1.3.2012)