Frau Gartner blättert in der eigenen Geschichte.

Foto: Lukas Kapeller

Wenn sie etwas nicht mehr weiß, spornt die Tochter sie in strengem Ton zum Nachdenken an.

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Manche Lücke kann Frau Gartner beim besten Willen nicht mit Erinnerungen füllen.

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Helga Zach vermittelt ihrer Mutter aber immer noch Erfolgsmomente.

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Fortgeschrittene Demenz: Die Vergangenheit schwindet.

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Frau Ströbl ist gutgelaunt: Sie findet das Essen - und vieles andere im Leben - einfach "superb".

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Geruch der frühen Jahre: Leitende Krankenschwester Zesch vor dem Kräuterbeet.

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Leben mit Demenz: Für manche seliges Vergessen, für andere Depression und innere Unruhe.

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Erinnerung an die Bewohnerinnen in Liesing, was sie besonders gut können.

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Frau Gartner unter Familienfotos: "Das Gute ist, dass sie auch schlimme Sachen vergessen hat."

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Wien - "Wer ist das auf dem Foto?", fragt die Tochter. - "Das war ein Onkel", antwortet Kristina Gartner, 92. - "Na, was heißt ein Onkel", mahnt die Tochter ein wenig streng, "wie hat der geheißen?" Frau Gartner schüttelt den Kopf, zuckt die Schultern. "Den hab ich weniger gekannt", redet sie sich raus. "Geh, Mama, das war der Pepi-Onkel, von dem habts ihr die Werkstatt geerbt."

In Frau Gartners Zimmer liegt nichts herum. Die Wäsche, der Schmuck, die Foto-Alben sind sorgsam in Kästen verräumt. Ein Bett, ein Tisch, ein Couchsessel mit karierter Decke stehen in ihrem geräumigen Zimmer in der Demenzkranken-Wohngemeinschaft in Wien-Liesing. Helga Zach, 59, besucht sie zweimal die Woche. Nicht zuletzt der Mutter wegen ist die Volksschul-Direktorin vom 2. Bezirk in den 23. gezogen. "Man redet sich ein, dass die Nähe irgendwas bringt", sagt die Tochter.

15 Pflegebedürftige leben hier in ihren Wohnungen mit Gemeinschaftsküche und Gemeinschaftsbädern. Die Hochbetagten können hier kochen, waschen, wegräumen und bügeln. Das Modell Demenz-WG, angesiedelt im Wiener Gemeindebau, gibt es seit 2008. Für ein intaktes WG-Leben sorgt ein etwa ebenso großes Team des Frauenordens "Caritas Socialis". Ziel: ein möglichst sinnvoller Alltag für demente Bewohner und das Gefühl, nützlich zu sein. Rund 100.000 Österreicher leiden an einer Demenz-Erkrankung, die meisten davon an Alzheimer. In 40 Jahren wird die Zahl auf 250.000 hochgeschnellt sein. Die Gesellschaft wird älter, die Zahl der Demenzkranken steigt sprunghaft. Die Kosten liegen schon jetzt bei jährlich einer Milliarde Euro.

Fotos erzählen von helleren Tagen

Frau Gartner zog im März ein. Viele Bewohnerinnen glauben jedoch, schon immer hier gewesen zu sein. Frau Gartners Wände hängen voller Fotos, auf denen sie noch kein schlohweißes Haar hatte und, wie die Tochter sagt, ein "Alpha-Tier" war. Viele Fotos zeigen ihren Sohn, den Rennfahrer Josef "Jo" Gartner. Er verunglückte 1986 in Le Mans tödlich. "Das einzig Gute an der Krankheit ist", sagt ihre Tochter, "sie hat auch die schlimmen Sachen vergessen."

Wenn sie Fotos durchsieht, verwechselt Frau Gartner manchmal Kinder mit Enkeln, oder ein Name entfleucht ihr. Doch beim Hochzeitsfoto hellt sich ihr Gesicht auf und sie blickt selig zur Tochter empor. "1943 hab ich geheiratet", sagt sie bestimmt. "Ein gutes Paar war ma, ich und mein Unteroffizier."

Die Tochter wird von Freunden für verrückt erklärt

Nachdem Josef Gartner senior 2003 gestorben war, kurz vor der diamantenen Hochzeit, merkte Frau Zach schnell, wie sich ihre Mutter veränderte. "Die Leute sagten: Was willst denn, die rennt eh wie ein Wiesel." Die Tochter ging trotzdem mit ihr zum Arzt. Diagnose: Alzheimer. "Ewig stand dasselbe schmutzige Reindl aufm Tisch. Eingekauft hat sie immer seltener", erinnert sich Frau Zach. Die damals 25-jährige Enkeltochter erklärt sich bereit, Frau Gartner aufzunehmen: "Die Omi kann doch mit dem Hund spazieren gehen." Aber immer öfter wirkte es, als würde der Hund mit Frau Gartner spazieren gehen statt umgekehrt. Sie wird endgültig pflegebedürftig, und Frau Zach nimmt die Mutter zu sich. Sie sei verrückt, sagten die Freunde. "Ich wollte die Tragweite nicht sehen", meint Helga Zach heute. "Man erwartet trotz allem eine Mutter. Aber wenn es einem selber schlecht geht, kommt kein Mitgefühl. In keiner Form."

Trotzdem hielt Frau Zach durch, ging zur Arbeit und lotste parallel dazu ihre Mutter durchs Leben, pflegte und umsorgte sie. Bis vergangenen Herbst. "Da hab ich gespürt, es geht nicht mehr." Dass die Mutter einen Platz in der Liesinger Demenz-WG, dieser überschaubaren Wohneinheit, bekam, beruhigte ihr Gewissen. Zumindest ein wenig. "Das ist für mich der Unterschied zu den großen Pflegeheimen, wo die Menschen irgendwie verloren sind. Da hat man das Gefühl, es ist wurscht, ob die Menschen aufm Bett, unterm Bett oder neben dem Bett sind."

Demenz-WG: Jeder Winkel eine Gedächtnisstütze

Ihre Mutter steht jetzt draußen auf der Sonnenterrasse. Konzentriert blickt sie durch die goldgerahmte Brille und hilft, die Erdäpfel fürs Mittagessen zu schälen. "Wenn ich in fünf Minuten frag, was sie gemacht hat, weiß sie‘s nimmer", sagt Frau Zach und drückt ihre Zigarette aus. Im Innenhof spendet ein Ahornbaum Schatten. Von drinnen dudelt "Radio Wien" sanften Reggae und Oldies hinaus, und jede Stunde wird es schwüler an diesem Vormittag.

Von der Welt abseits der WG-Mauern und ihrer Hast, vom Ärger der Autofahrer über den Morgenstau, von vollen Terminkalendern, wissen die Bewohnerinnen nichts mehr. Sachte bläst der Wind durch die Hecken des Hofs, drinnen sind die Wände bunt gestrichen. An einer stehen die Namen aller Pflegerinnen geschrieben, mit farbig umrahmten Fotos. Eine Tafel zeigt, was die Bewohnerinnen so tun: Frau F. deckt den Tisch, Frau K. legt die Wäsche zusammen, Frau P. arbeitet gerne im Zimmer (Lesen, Scherenschnitte). Auch die Türen haben verschiedene Farben - jeder Winkel hier ist eine kleine Gedächtnisstütze. Auf der Terrasse lädt ein Kräuterbeet die Bewohnerinnen zum Riechen ein. Wer weiß, vielleicht rufen Thymian und Fenchel ein Kindheitserlebnis wach.

Die eigene Biografie gerät zum Lückentext

Am großen Esstisch im Wohnzimmer hat sich die Gemeinschaft, nur ein Mann darunter, um Leberkäse, Spinat und Frau Gartners sorgsam geschnippelte Erdäpfel versammelt. "Superb schmeckt es", sagt Frau Ströbl immer wieder, "superb!" Die redselige WG-Kollegin erhebt sich wenig später vom Stuhl und führt stolz durch ihr Zimmer, in dem Schwarz-Weiß-Fotos ihr Leben erzählen. "Das wollen wir so. Unsere Zimmer sind wie eine Erinnerungskiste", sagt die leitende Krankenschwester Susanne Zesch. Sie trägt ein leichtes Sommerkleid, keinen weißen Kittel, auch das soll fürs WG-Gefühl helfen.

Auch Frau Gartners Fotos berichten von bewegten Zeiten. Davon, wie die Burgenlandkroatin mit 15 von Oberpullendorf nach Wien zog und gerügt wurde für ihr schlechtes Deutsch. Wie sie ihrem Mann in seiner Autowerkstatt immer geholfen hat. "Sie wollte immer Leute um sich", sagt die Tochter. Ihren Mann hat sie oft gequält mit ihren Ausgehwünschen am Freitagabend, mit ihrem Drang zu feiern und Karten zu spielen.

Immer wieder beginnt Frau Zach einen Satz, blickt ihre Mutter an und hofft, dass sie ihn richtig vollendet. "Als Mädchen bist du nach Wien gegangen ..." - "In eine Gastwirtschaft", ergänzt Frau Gartner. - "Richtig, Mama." Für Frau Zach ist es ein Erfolg, wenn die Mutter verschüttete Erinnerungen wieder hervorkramt. Wenn sie das Datum ihrer Hochzeit weiß. Oder wenn sie eine Pflegerin beim Schnapsen besiegt. "Unglaublich, wie diese Frau noch zählen kann", staunt sie dann über ihre Mutter.

Verloren im Erinnerungschaos

Frau Gartner fühlt sich in der WG wohl, doch nicht alle hier erscheinen immer so sanft und freundlich wie sie. Depression und Aggression sind häufig Begleiter in der Demenz-Wohngemeinschaft. Es komme vor, dass Bewohnerinnen mit ihrem Stock auf jemanden einschlagen oder mit Tellern um sich werfen, erzählen die Pflegerinnen. Oftmals kommen verdrängte Kriegserlebnisse und Familienkrisen wieder hoch. Manche Demenzkranke wandern ruhelos im Kreis, andere verlieren sich in wirren Gefühlen. "Da kommt die Gattin zu Besuch, und ihr dementer Mann sitzt händchenhaltend mit einer anderen Frau da", schildert Krankenschwester Zesch.

Frau Zach will nichts kaschieren in der Beziehung zu ihrer Mutter. Sie gibt zu, dass sie sich über sie ärgerte und sich oft allein mit ihr fühlte. Durch die WG sei das besser geworden. "Früher wollte ich sie nicht mehr sehen, jetzt kann ich mich freuen, wenn ich sie besuche."

Frau Ströbl kommt gerade aus ihrem Zimmer und betritt die Sonnenterrasse. "Superb", sagt Frau Ströbl abermals. Und dann noch einmal: "Superb!" Sie meint diesmal wohl das Wetter. Frau Zach verabschiedet sich. "Irgendwie", vermutet sie, "sind diese Menschen ja überhaupt nicht unglücklich." (Lukas Kapeller, derStandard.at, 29.8.2011)