Verstopfungen, Brechanfälle und eine ausgewalzte Todesarithmetik überdecken zuweilen die Toten: Jonathan Littell.

Foto: Hélie/Gallimard
Ein Roman ist keine historische Abhandlung, Literatur ist prinzipiell Fiktion. Wenn auch die bei geschichtlichen Gegebenheiten ansetzende Abbildungskraft auf die Einbildungskraft wirkt, so hebt doch Dichtung jedenfalls vom Faktischen ab. Als der 900 Seiten dicke Roman Les Bienveillantes von Jonathan Littell 2006 in Frankreich rasch zu einem immensen Verkaufserfolg wurde und den renommiertesten Preis, den Prix Goncourt, erhielt, drehten sich die Kritiken stark um seine historische Dimension und das Wagnis, die Perspektive eines Verbrechers gegen die Menschheit einzunehmen.

Die Figurenrede ist jene eines höheren SS-Mannes, der anscheinend umfassend aus dem Inneren der Holocaust-Maschinerie berichtet. Die Wohlgesinnten liegt nun auf Deutsch vor, in der Sprache der Täter. Gewiss lässt sich überlegen, ob hier nicht ein Voyeurismus des Grauens bedient wird, ob nicht bei Erzählungen über Nazireich und Shoa das Unmenschliche auf Menschliches zurückgeführt werde. Jedoch: Gerade die Dichtung schafft es seit jeher, auch über das Humane hinauszugehen. Gewagt mag Littells Ansatz wohl sein, allerdings wird in seiner Fiktion der Protagonist mit zunehmender Überformung ohnehin wieder entmenschlicht. Im Führerbunker der letzten Kriegstage kneift der Obersturmbannführer Hitler in die Nase; für die fremdsprachigen Ausgaben wünschte Littell, man solle dies verstärkend durch einen Nasenbiss ersetzen. Nicht die faktischen "Fehler" (z.B.: eine hohe Charge der SS aus der Ostmark spricht von Innsbruck in Oberösterreich, das damals noch dazu "Oberdonau" zu heißen hatte), vielmehr die kompositorischen und sprachlichen Mühen machen das Werk – ästhetisch – problematisch.

Inzest und Vatermord

Die Wohlgesinnten bezieht sich nicht nur in Grunddispositionen auf das klassische antike Vorbild der Orestie von Aischylos und hier mit den titelgebenden Eumeniden auf die verfolgende Last der Erinnerung, sondern bedient sich darüber hinaus barocker Tänze als Kapitelüberschriften (Allemande, Sarabande etc.) und einer Unmenge von Verweisen, darunter recht simpler Signale. Im Namen des SS-Karrieristen Dr.Max Aue schwingt deutsches Hochmittelalter samt Schuldfrage mit. Dieser Schreckliche deutsch-französischer Herkunft ist überall dabei, wo ein Panorama des Nazireichs hinführen sollte, in Baby Yar und in Stalingrad, in Auschwitz und im Führerbunker, er kennt die hochliterarischen Kollaborateure Brasillach und Céline gut, von Himmler und Kaltenbrunner bis Eichmann und Mengele kommen ihm alle einschlägigen Massenmörder unter, dazu ein ominöser Protektor, Dr. Mandelbrod, ein klischeehafter Fadenzieher im Hintergrund, der mit Hitler speist.

Zudem schreibt Littell diesem Aue im Privaten dick aufgetragene Sonderbarkeiten und Grauslichkeiten zu: Der zeitweilige Masochist mit Neigung zu kräftigen Jungen hat ein inzestuöses Verhältnis zur Schwester, ermordet in Südfrankreich offenbar den Stiefvater Moreau (ein Flaubert-Name) und die Mutter, die mysteriöse Zwillinge beherbergt. Diese heißen Orlando und Tristan; mit den Namen der Mutter und der Berliner Halbgeliebten, Héloïse und Helena, findet sich eine Breite literarischer amouröser Verwicklungen angespielt.

Im ersten Satz wendet sich dieser Ich-Erzähler an "Menschenbrüder" und gibt in einer Formel narrativer Legitimierung vor zu schildern, "wie alles geschehen ist". Von Anfang an breitet er im (in der Übersetzung) 1400 Seiten dicken Buch geschwätzig sein Ego aus, seine Denkweisen und Sicherheiten, seine Verstopfungen und Brechanfälle – der Stalingrad-Abschnitt trägt den Titel "Courante", im Umgangsfranzösisch "Dünnschiss" –, und eine ausgewalzte Todesarithmetik verdeckt mitunter die Toten. Die Reflexionen dieses Dr. Aue wirken zum Teil plakativ, sein Prolog dreht sich um allerlei, außer um die Frage nach dem Gedächtnis. Wie kann einer vergangene Dialoge berichten, als wären sie sicher genauso gesprochen worden, wie nach einem Kopfschuss das folgende Delirium derart erinnert?

Warum schreibt so einer? Die Antwort bleibt Klischee wie einiges in diesem Roman, sie widerspricht der behaupteten Komplexität der Figur: Die Literatur sei möglicherweise das einzige Lebendige für den alten Rückblickenden; im Übrigen bleibe es ihm ungewiss, ob er dies nicht nur aus Gewohnheit annehme. Ein deutlicher Hinweis a priori auf die fiktionale Dimension des Textes.

Seine Schwächen sind literarische. Aus Duktus und Metaphorik spricht die Kunstanstrengung, die direkten Anreden an den Leser und die Worte zum Erzählvorgang selbst stören mehr, als sie verstören. Die Komposition in großen Blöcken wirkt bemüht, viele Sätze kommen mir überladen vor, und es ist nicht einsichtig, dass in der Manier eines Genreromans in der Übertragung eines deutschen Dialogs ein paar Originalfloskeln stehen bleiben, nicht selten falsch: "Je suis sûr qu’on se reverra bientôt. Tchüss!" Zu ausführlich fällt die Beschreibung des Krieges im Kaukasus aus, immer wieder eine andere Stadt – später Lublin, Krakau –, wie aus dem Baedeker: Die Aufzählung scheint in diesen Teilen eine Chronik des Kompletten anzustreben; Erzählen bedeutet indes Auswählen. Zu simpel psychologisierend der Mutterhass (noch dazu muss die Zwillingsschwester gerade bei C.G. Jung studieren), zu schablonenhaft das Polizistenpaar, das den vermutlichen Elternmörder Aue verfolgt, zu langatmig die Flucht aus dem Osten, zu grotesk das Ende in Berlin.

Wenn Littell, der intensiv recherchiert hat und ungemein vieles aus dem "System Auschwitz" plausibel nach dem Forschungsstand darstellt, in seinem literarischen Konzept auf Plausibilität aus ist, dann dürfte er die Figurenrede in ihren Überformungen nicht erst ab dem Stalingrad-Abschnitt als Schilderung eines Kopfschüsslers anlegen, während er von vornherein aber auf einem ausladenden Kulturverweissystem aufbaut. Wenn er jedoch eine Plausibilität brechen, ins Groteske tendieren will, so nimmt er der Abbildung sowie der Einbildung das, was er anzustreben vorgibt: eine innere Wahrheit. (Klaus Zeyringer, DER STANDARD/Printausgabe, 20.02.2008)

>>> Nachlese: Genie braucht Weile
Wer ist Jonathan Littell?

>>> Nachlese: Mit Orest im Führerbunker Der US-französische Autor Jonathan Littell lässt in dem Roman "Die Wohlgesinnten" einen fiktiven SS-Offizier erzählen. Im Februar erscheint sein Bestseller über die Banalität des Bösen auf Deutsch