Kommt jetzt der Jahrhundertfrühling der österreichischen Literatur? Ein kleiner Einblick in den Terminkalender des Kritikers.

Illustration: Gmünder
Angefangen hat es ausgerechnet in der NZZ. Die Zürcher Zeitung , sonst nicht unbedingt als Hort der Übertreibung bekannt, ließ es in diesem Spätsommer krachen. Während man sich in Österreich, da Sommerloch, gerade mit der Geburt des Pandababys Fu Long befasste, rief das Blatt, das sie in der Schweiz "die alte Tante von der Falkenstraße" nennen, nicht weniger als den "Jahrhundertherbst der österreichischen Literatur" aus. Was rein quantitativ auch stimmt: Mit Alois Brandstetter, Franzobel, Arno Geiger, Thomas Glavinic, Erich Hackl, Peter Henisch, Robert Menasse, Martin Prinz, Christoph Ransmayr, Gerhard Roth, Ferdinand Schmatz, Robert Schneider, Margit Schreiner, Linda Stift und Josef Winkler legten gleich eine Reihe von Autoren, deren Namen nicht nur in Österreich einen guten Klang haben, neue Bücher vor. Viele davon in großen deutschen Verlagen.

Als dann ruchbar wurde, dass es sechs Titel auf die Longlist (20 Bücher) des verkaufsfördernden Deutschen Buchpreises geschafft hatten, und später zwei von sechs Plätzen auf der Shortlist an Österreicher gingen (gewonnen hat dann allerdings eine Deutsche, Julia Franck), kam es so, wie es in Österreich immer kommt, wenn man sich von außen unter Druck gesetzt oder zu unrecht gelobt fühlt. Sigrid Löffler etwa vermutete, das österreichische Jurymitglied Karl-Markus Gauß habe dafür gesorgt, dass Köhlmeier und Glavinic auf der Shortlist standen, denn "vier weitere Österreicher hatte er ja schon auf die Longlist gepusht". Unter den Kritikern der ORF-Bestenliste entbrannte etwa zeitgleich, nachdem ein Mitglied auf stilistische Schwächen der zum Teil hochgelobten Werke hingewiesen hatte, ein zuerst intern, dann öffentlich geführter Streit, ob die Kritiklosigkeit, mit der die Österreicher in den österreichischen Feuilletons aufgenommen wurden, nicht gar provinziell sei.

Eine Krise der Kritik also, und das ausgerechnet im "Jahrhundertherbst"? Womit man beim Literaturbetrieb, der Branche ist, bei Marketing, Ich-Marken und Befangenheiten. Natürlich kennen sich Kritiker und Autoren, manchmal sind sie befreundet. Vielleicht ist es kein Zufall, dass eines der erfolgreichsten Bücher dieses Herbsts, Glavinics Das bin doch ich, den durchaus selbstironischen Ich-Erzähler Thomas Glavinic als einen sich selbst, dem Betrieb und der Kulturschickeria ausgesetzten Kleinstunternehmer präsentiert.

Das Buch zeigt zudem schön, dass mittlerweile die Welt der Ranglisten und Klassements auch die Literatur erfasst hat. Bestseller-, Besten- und andere Listen, Rankings und Autorenhomestorys sind dabei, die literarische Wertung zu ersetzen. Es herrscht die "Ökonomie der Aufmerksamkeit", entweder schafft man es als Autor, Aufmerksamkeit zu erregen, und schreibt sich, überspitzt gesagt, in die Top Ten, oder man bleibt, so bedeutend man als Schriftsteller auch sein mag, draußen. Beispiele dafür sind heuer etwa Reinhold Aumaier mit seinem Prosaband Rutschbonbon, Günther Kaip mit der Kurzprosa Milchstraße, Elfriede Gerstl mit ihrem Kleiderflug oder auch Hanno Millesis Museum der Augenblicke. Sitzen dann erst einmal auch in den Verlagen, was mittlerweile oft der Fall ist, Leute, die vor allem (Verkaufs-)Zahlen sehen wollen, wird es für viele Autoren, welche die Vorgaben nicht erreichen, existenziell.

"Poetischer Kapitalismus" hat der Kärntner Autor Egyd Gstättner vor Jahren diese Entwicklungen in einem satirischen Essay einmal genannt und dafür gehörig Spott geerntet. Die Zeit hat ihm teilweise recht gegeben. In einem Interview mit derStandard.at meinte er vor einigen Wochen: "Geistesprodukte wie Bücher werden entweder nicht mehr wahrgenommen, kommen nicht mehr vor oder werden verkauft wie Zahnpasta oder Schleckeis: zum schnellen Verzehr bestimmt. Sie unterliegen denselben Mechanismen wie das ganze geistlose Zeug, und es fällt schon niemandem mehr auf." Ins selbe Horn stößt Elfriede Jelinek im "Geburtstagsheft" eines bunten Neuigkeitsmediums. Bücher schreibt sie dort, werde es immer geben, doch in 15 Jahren werden sie "vielleicht Trash sein, zum raschen Verbrauch bestimmt, oder Luxusobjekte, die aufwendig gestaltet sein werden". Außerdem hätten sie nicht nur ihre Öffentlichkeitsscheu, sondern auch ein tiefes "Unbehagen am derzeitigen Literaturbetrieb" bewogen, ihren neuen Roman unter http://ourworld.compuserve.com/homepages/elfriede/ Kapitel für Kapitel im Internet zu veröffentlichen. Sein Titel: Neid. Privatroman.

Womit wir vielleicht endlich zu den Büchern dieses Jahres kommen könnten, denn es fällt auf, dass das Private und Individuelle viele österreichische Neuerscheinungen prägte. Glavinic wurde schon erwähnt, auch Margit Schreiner hat in ihrem Roman Haus, Friedens, Bruch Ähnliches unternommen und eng entlang der eigenen Schriftstellerbiografie geschrieben. Gerhard Roth hat sich, nachdem ihn erst spät Bilder aus der Kindheit eingeholt und nicht mehr losgelassen haben, in seiner beeindruckenden, 800-seitigen Autobiografie Das Alphabet der Zeit auf die Spuren seiner selbst und seiner Familie begeben. Ebenso Peter Henisch, der nach seinem 1975 erschienenen Roman Die kleine Figur meines Vaters nun in Eine sehr kleine Frau seiner Großmutter ein zartes Denkmal setzt. Josef Winkler schreibt in seiner japanischen Novelle Roppongi über den Tod des von Anfang an in seinem Werk präsenten Vaters. Das Vaterthema klingt auch in Robert Menasses Don Juan de la Mancha an, dessen Hauptfigur sich nicht nur mit der Liebe ("Man kann nur mit der ersten Frau oder mit der letzten glücklich werden"), sondern auch mit Paarbeziehungen nach 1968 schwer tut. Ähnliches ist in Martin Prinz’ geheimnisvollem Roman Ein Paar ein Thema oder in Lilian Faschingers im Frühjahr erschienenen Wien-Roman Stadt der Verlierer, in dem sich vieles um einen Springsteen-Liebhaber und Frauenhelden dreht. Anna Mitgutsch hat mit Zwei Leben und ein Tag über Erinnerung, das Scheitern zweier Menschen an der Realität und Melville geschrieben. Sabine Gruber schließlich hat sich in ihrem ebenfalls im Frühjahr erschienenen Roman Über Nacht kunstvoll mit körperlichem Zerfall, Liebe, Tod und der Macht literarischer Erzählung befasst.

Es spricht für die Vielstimmigkeit der österreichischen Literatur, dass einem Autor wie Raoul Schrott mit Die fünfte Welt und Handke mit seinem Roman Kali, die beide heuer zu Jahresbeginn erschienen, zwar in den Sinn kommen, aber nicht mehr den dominierenden Platz wie noch vor einigen Jahren einnehmen. Dazu erschienen mit Martin Truschners Die Träumer und Michael Stavarics Terminifera Bücher von Autoren, von denen man wie von den Debütanten Clemens J. Setz und Angelika Reitzer noch hören wird.

Die österreichische Literatur ist in den letzten Jahren zu neuen Ufern aufgebrochen, sie ist thematisch breiter geworden, hat sich der Welt geöffnet. Gute Beispiele dafür sind Erich Hackls Roman Als ob ein Engel, der in Wien beginnt und in Argentinien auf den Spuren einer verschwundenen jungen Frau endet, oder auch Michael Köhlmeiers Bestseller Abendland. Vor spezifisch österreichischem Hintergrund, nämlich der Lebensgeschichte des Wieners Carl Jacob Candoris, eines hochbegabten Mathematikers und Jazzfreunds, der in seinem 95-jährigen Leben vieles gesehen hat, zeichnet Köhlmeier ein Panorama des 20. Jahrhunderts.

Der Roman erzählt auf 900 in aller Welt spielenden Seiten nicht weniger als die Wissens- und Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts. Stets aber steht das Individuelle, nämlich die Geschichte zweier kranker Männer, Candoris und des Erzählers, im Vordergrund. "Wann ist eine Geschichte eine gute Geschichte?" heißt es an einer Stelle … "Wenn sie gebaut ist wie das Leben."

Ja, das Leben. Es war seit jeher das Privileg der Literatur, von ihm zu erzählen, von seinen Sehnsüchten und Hoffnungen, von Liebe, Tod, Erinnerung und Möglichkeitsräumen. Um es zu fassen, schreibt man, und aus demselben Grund liest man wohl auch, Begeisterung heißt das Wort dafür. "Jahrhundertherbst" hin oder her. Oder wie es in Friederike Mayröckers im Februar 2008 erscheinendem neuen Buch Paloma heißt: "Die Gravur dieses Lebens, von abgrundtiefer Schönheit, die Extreme zerreißen mir das Herz." (Stefan Gmünder, DER STANDARD/Printausgabe, 28./29.12.2007)