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Die Lebenswelt von Autisten bleibt unerschlossen

Der Verein Rainman´s Home in Wien will helfen, autistische Menschen nach Ende der Schulzeit weiter zu fördern, zu integrieren und Isolation zu vermeiden

Foto: Rainman´s Home
Foto: Rainman´s Home
Alle Adressen und Namen eines Telefonbuchs aufzählen, die genaue Anzahl am Boden verstreuter Zahnstocher wissen - herausragenden Fähigkeiten von Autisten in Filmen faszinieren, weil sie Einblick in eine unbekannte Lebenswelt gewähren. Doch derartige intellektuelle Fähigkeiten sind nicht die Regel bei autistischen Störungen.

Andere Sinneswahrnehmung

"Autisten besitzen meist alle Sinne - sie sehen, hören, empfinden, denken aber anders", erklärt Therese Zöttl, Pädagogische Leiterin und Vorstandsmitglied des Forschungsvereins Rainman´s Home beim Autismus-Forum in Wiener Museumsquartier. Wie "anders" ist schwer erklärbar, denn Autismus ist so unterschiedlich wie die Menschen selbst.

Das gemeinsame Merkmal: Es handelt sich um eine Wahrnehmungs-Verarbeitungsstörung. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) klassifiziert Autismus als eine tief greifende Entwicklungsstörung.

Keine seltene Störung

In Österreich leiden laut dem Verein Rainman´s Home rund 56.000 Menschen an einer Störung, die dem Autismus-Spektrum zuzurechnen ist. Von leicht bis schwer kann das Spektrum (Autism Spectrum Disorder, ASD) reichen. Die Merkmale des Syndroms sind charakteristisch, sie manifestieren sich bereits vor dem 30. Lebensmonat – auch wenn sie oft erst wesentlich später erkannt werden.

Mängel in der sozialen Interaktion

Autistische Menschen haben Probleme im alltäglichen sozialen Umgang. Ihnen fehlt die Fähigkeit auf andere Menschen zu reagieren. Zu den generellen Auffälligkeiten, die innerhalb des Autismus-Spektrums auftreten, können zum Beispiel Kontaktschwierigkeiten zu Mitmenschen, auch zu den Eltern, gehören. Zärtlichkeiten werden abgelehnt.

Der Blickkontakt fehlt häufig, die Kinder schauen weg oder haben einen leeren Gesichtsausdruck. Oft treten schwere Sprachauffälligkeiten, wie Echolalie auf – das zwanghafte Nachsprechen von Worten oder Sätzen von anderen.

Charakteristische Merkmale

Ein sehr bekanntes Merkmal ist der große Widerstand gegen geringe Veränderungen, wie das Wechseln der Kleidung. Autistische Menschen neigen zur Überaktivität, laufen beispielsweise ständig hin und her. Stundenlanges rhythmisches Klopfen ist ein Hinweis auf stereotype Spielgewohnheiten.

Diese Merkmale treten allerdings keineswegs bei jedem Autisten auf. Unterschieden werden zwei grundsätzliche Formen von Autismus, aber meist vermischen sich die Beobachtungsmerkmale in der Realität.

Frühkindlicher Autismus

Der Kanner-Autismus ist benannt nach dem Wiener Kinderpsychiater Leo Kanner, der sich 1943 in den USA mit auffälligen Jugendlichen beschäftigt hat und seine Beobachtungen als "Frühkindlichen Autismus" beschrieben hat: Die Kinder nehmen kaum Kontakt mit anderen Menschen auf , haben entweder keine oder eine sehr auffällige Sprache, sind an einer Gleicherhaltung ihrer Umwelt sehr interessiert und haben Intelligenz-Defizite. Kinder, die dem frühkindlichen Autismus entsprechen werden auch als High-functioning Autisten bezeichnet, wenn zusätzlich ihre Intelligenz besser ist.

Aspergersyndrom

Aber nicht immer erkennt man Autismus auf den ersten Blick oder beim ersten Hinhören: Menschen mit dem so genannten Aspergersyndrom sprechen weitgehend normal und weisen auch normale Intelligenz auf. Sie verhalten sich aber dennoch "anders": Sie neigen zu stereotypen Verhaltensmustern, fallen durch motorische Ungeschicklichkeit auf und haben soziale und Kommunikationsprobleme. Der Wiener Kinderarzt Hans Asperger hat dieses Verhalten fast zeitgleich mit Kanner beschrieben.

Genetisch bedingt

Es gibt viele beobachtbare Merkmale, Tatsache ist aber, dass man bis heute nicht genau weiß, was in autistischen Menschen tatsächlich vor sich geht. Nur eines ist bis dato sicher: Autismus vorbeugend vermeiden geht nicht. Denn nach wie vor existieren eine Vielzahl von mutmaßlichen Ursachen. Vermutet wird aber, dass über 90 Prozent der autistischen Störungen genetisch bedingt sind. Aber die Genforschung konnte bis jetzt keinen genauen Bereich im Gencode ausmachen, an dem allein die Ursache für die Entstehung von Autismus festzumachen wäre.

Vorsichtige Erkenntnis

In groß angelegten Studien versuchen Forscher deshalb derzeit neue Erkenntnisse zu gewinnen: Im Rahmen des "Autism Genome Project" werden internationale Ergebnisse und Forschungsmethoden gebündelt, allgemein suchte man nach genetischen Ähnlichkeiten bei autistischen Menschen. Als besonders autismusspezifisch identifiziert werden konnte nun ein spezielles Gen (Neurexin 1).

Die Ergebnisse werden in der Autismus-Forschung allerdings noch vorsichtig betrachtet, weil auch ein Zusammenwirken mehrerer Gene möglich sein kann. Die Forschung ist auf dem Gebiet also noch besonders gefordert. (Marietta Türk, derStandard.at, 17.10.2007)