Sozialminister Erwin Buchinger will dieser Unterstützung das Stigma nehmen. Obwohl er bezweifelt, dass Verzicht auf Sozialhilfe ein Massenproblem sein soll.

*****
Wien - Eine vergleichende europäische Studie des "Europäischen Zentrums für Wohlfahrtspolitik und Sozialforschung", die jüngst präsentiert wurde, löste im Sozialministerium ziemlichen Wirbel aus: Demnach hätten im Jahr 2003 143.000 österreichische Haushalte Anspruch auf Sozialhilfe gehabt - aber nur 63.000 machten davon Gebrauch. 80.000 Haushalte stellten keinen Antrag auf Sozialhilfe. Insgesamt 215 Millionen Euro sollen auf diese Weise Ländern und Kommunen "erspart" geblieben sein.

Freilich bezweifelt Buchinger die Zahlen des "Europäischen Zentrums": "Das ist eine Schätzung, die noch dazu auf einer Verschränkung verschiedener Datensätze beruht", sagte Buchinger am Donnerstag zum Standard. Die Zahl 80.000 erscheine ihm hoch - vor allem auch deshalb, "weil das keine präzise empirische Untersuchung ist". Es gebe zu viele Unsicherheiten, etwa, aus welchen Gründen Menschen nicht ansuchen: Besitzen sie (wenn auch geringes) Vermögen oder zahlen Verwandte etwas zu, kurzum: "Man darf diese Zahl nicht überinterpretieren."

Der Minister bestreitet allerdings nicht, dass Menschen tatsächlich - oft aus Scham - nicht um Sozialhilfe ansuchen. Abhilfe soll die Mindestsicherung schaffen, die, hofft Buchinger, bis Jahresende als Gesetz "stehen" soll. Setzt er sich durch, soll es künftig einen Rechtsanspruch auf Sozialhilfe (dann Teil der Mindestsicherung) geben.

AMS soll helfen

Zudem sollen Ansuchen und Auszahlung über die örtlichen Stellen des Arbeitsmarktservice (AMS) abgewickelt werden. Der Vorteil, den auch die Caritas bei dieser Variante sieht: Nicht mehr der örtliche Bürgermeister, sondern ein etwas weniger intimes "Amt"wäre zuständig. Ob jemand Sozialhilfe bekommt oder nicht, läge dann nicht länger, so wie bisher, im "Ermessen" des jeweiligen Bürgermeisters.

Caritas-Sozialreferent Christoph Beinenstein-Bachstein bestätigt aus der Praxis, dass der Bürgermeister vor Ort, der meist auch der Sozialamtsleiter ist, ein "Problem" darstellen kann: "In unsere Sozialberatung in Niederösterreich kommen oft Frauen, die uns um Geld bitten, weil sie vermeiden wollen, dass der Bürgermeister das weiß. Denn dann wissen es alle im Dorf."

Ob sich Buchinger mit seinen Plänen durchsetzt, ist freilich die Frage: Der erste Zwischenbericht der "Mindestsicherung"-Reformgruppe liegt derzeit bei den Ländern, die noch bis Ende August Zeit haben, sich eine akkordierte Stellungnahme zu überlegen. Schon jetzt gibt es freilich aus manchen Ländern Bedenken dagegen, dass die AMS-Stellen die soziale Unterstützung auszahlen sollen und dass es überhaupt einen Rechtsanspruch geben soll. Ganz weit ist man überdies von einer Lösung der Finanzierungsfrage entfernt, die ja wiederum an die Finanzausgleichsverhandlungen gebunden ist.

Österreich ist mit dem Problem der Scham vor dem Bürgermeister nicht allein: In ganz Europa geniert man sich offenbar - vor allem in Deutschland, wo laut Studie 67 Prozent der anspruchsberechtigten Haushalte nicht ansuchen. Das war freilich vor Hartz IV, betont Studienautor Michael Fuchs, der Buchinger insofern recht gibt, als er "keinen Grund zur Panik sieht": "Im internationalen Vergleich ist es in Österreich nicht so arg." Was er freilich nicht auf sich sitzen lassen will, ist der Vorwurf, seine Zahlen könnten nicht stimmen: "Wir haben alle Unsicherheiten berücksichtigt. 49 bis 62 Prozent der bedürftigen Haushalte suchen nicht um Sozialhilfe an." (Petra Stuiber/DER STANDARD, Printausgabe, 27.7.2007)