Agios Nikolaos, Kreta.

Foto: Griechische Zentrale für Fremdenverkehr
Zugegeben: Eine Geschichte über einen Ort, der zu besuchen lohnend ist, mit einem Exkurs über Lepra zu beginnen, ist nicht optimal. Schon im zweiten Satz darauf hinzuweisen, dass die Region, in der dieser Ort liegt, eigentlich total überlaufen (um nicht zu sagen "totgetrampelt") ist, klingt wohl kaum besser. Aber weil jeder, der eine Ahnung von Kreta hat, eben doch als Erstes fragt, ob man "eh in den Südwesten" - und eben nur ja nicht in den von Clubanlagen und Plattenbauhotels übersähten Bereich östlich von Heraklion - fährt, sei hier die Warnung eines niederländisch-deutschen Paares deponiert: "Um Gottes Willen - als wir vor zehn Jahren hier waren, war Elounda doch noch ein verträumtes Fischerdorf. Und jetzt läuft in jedem Café britischer Fußball oder MTV." Vor dem dazu passenden Publikum. Punkt.

Anderes Ressort

Nun folgt, worauf es ankommt: das "Aber". Denn das Gute am Resort- Touristen ist, dass er den All-Inclusive-Bereich kaum je verlässt. Beziehungsweise: Er verlässt den Club, um in anderen clubartigen Umfeldern einzufallen. Und deshalb ist Kreta dann schon wenige Kilometer hinter dem ehemals verträumten Fischerstädtchen Elounda, auf halbem Weg zwischen Heraklion und der regionalen Provinzhauptstadt Agios Nikolaos (deren ursprünglicher Charme sich jenseits der Hauptreisezeit ebenfalls noch erahnen lässt), schon wieder ziemlich so, wie man sich das wünscht: Das Meer tätschelt die Zehen, die Taverne ist klein und in Umfallweite - und gegenüber, genau zwischen Wasser (tiefblau) und Himmel (knallblau) liegt eine alte Pirateninsel mit verfallenden Festungs- und sonstigen Gemäuern. Und gibt den träge dahindümpelnden Gedanken ein bisserl eine Richtung. Oder zumindest Stoff für ein kleines Drehbuch im Kopf.

Bloß: Das Drehbuch ist falsch. Mit ziemlicher Sicherheit. Denn Spinalonga, die romantisch-abenteuerliche Insel, die da in der Einfahrt in die langgezogene Bucht von Elounda liegt, war nie ein Piratennest. Sie war auch - heißt es - nicht immer eine Insel, sondern wurde vor nicht ganz 1000 Jahren dazu gemacht. Aus strategischen Gründen. Und um sich abzugrenzen.

Bis 1957 wurde auch ausgegrenzt. Denn Spinalonga war bis Mitte des 20. Jahrhundert eine Leprakolonie. Die "Aussätzigen" wurden mit Booten auf die kleine, in 30 Minuten zu Fuß bequem umrundbare Insel gebracht. Die Isolation schweißte die Kranken zusammen: Man organisierte sich, bebaute das (karge) Land, errichtete Kommunalgebäude und wählte Repräsentanten. Außerdem verliebte man sich, heiratete und bekam Kinder. Die waren gesund und durften die Insel wieder verlassen.

Es dauerte aber dennoch bis 1957, bis die Gesundheitsbehörden den Bann über die bis zu 400 hier lebenden Kranken aufhoben - und die Bewohner des (derzeit noch immer kleinen und romantischen) Fischerdörfleins Plaka beginnen konnten, statt Lebensmitteln und Medikamenten die ersten Besucher auf die Insel zu schippern. Und man sich daran machen konnte, die Geschichte des kleinen Eilandes wiederzuentdecken.

Denn die Insel war über Jahrhunderte ein strategisch relevanter Punkt im Mittelmeer: Die geschützte, langgezogene Bucht von Elounda war seit jeher ein wichtiger, da sicherer Hafen. Zuletzt, in den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts, sogar ein Flughafen: Die ruhige Meeresoberfläche wurde von den legendären Flugbooten der British Imperial Airways als Versorgungs- und Zwischenstation der Routen nach Indien und Australien genutzt. Friedlich. In den Jahrhunderten davor war Spinalonga Brückenkopf.

Überfallartig befestigt

Erstmals befestigt wurde die Insel im 15. Jahrhundert. Nach zahlreichen Überfällen unter der Führung Barbarossas auf das Umland. Am Ende der Dekade wird daraus die erste "echte" Festung. Im darauffolgenden Jahrhundert besetzen die Türken Kreta - die Festung auf der Insel ist aber bis ins frühe 18. Jahrhundert nicht zu knacken.

Erst 1718 besiegelt ein Vertrag ihr Schicksal. Die Kreter ziehen ab, die Insel wird ottomanisch - und ein wichtiger Handels- und Hafenposten. 1881 leben über 1100 Menschen hier - es entstehen Moscheen, Wohnhäuser und ein Friedhof.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird Kreta unter das Kuratel der damaligen Großmächte (Frankreich, England, Italien und Russland) gestellt. Und von französischen Truppen als Stützpunkt genutzt. Doch mit der griechischen Unabhängigkeit ziehen die Franzosen ab: Die Insel bleibt verwaist zurück, wird vergessen, und der langsame Verfall der alten und der weniger alten Gebäude setzt ein. Bis Spinalonga Lepra-Station wird.

Dem Charme und dem Nimbus des Verwunschenen haben aber weder der Verfall noch die Umbauten etlicher Festungsteile zugunsten einer zivilen Nutzung durch die letzten Bewohner geschadet. Eher im Gegenteil: Der archaische Charakter der massiven Burg wird durch den - im Vergleich dazu - fast verspielten Charme der zivilen Bauten konterkariert. Und von epochenübergreifendem Verfall vereint.

Vielleicht ist es ja just dieser an sich inhomogene Mix, der beim Blick vom "Festland" (Kreta nämlich) die Pirateninsel- Drehbuchassoziationen erweckt. Die bleiben aber dann auch den Tagesausflüglern: Boote nach Spinalonga "shuttlen" von Plaka (fünf Minuten), Elounda (15 Minuten) und Agios Nikolaos (etwas über eine halbe Stunde). Und weil es dort weder Beschallung noch All-Inc-Catering gibt, bleiben jene Clubtouristen, die sich doch auf die aus den größeren Orten kommenden Boote verirren, oft in der einzigen Taverne vor den Mauern sitzen. Die anderen Besucher klettern schwitzend umher - und wissen danach, auf der Fahrt in den Südwesten Kretas, dass es oben im überlaufenen Osten doch mehr gibt als das, wovor man sie gewarnt hat. (Thomas Rottenberg/Der Standard/Printausgabe/21./22.4.2007)