"Ein Unglück kommt selten allein" – ein typischer lakonischer TV-Magazin-Titel von Alexander Kluge, zwischen Fakten und Fiktionen.

Nachlese
Kommentar der anderen
: Aufzeichnung einer "Dämmerstunde"
Aus Anlass der aktuellen RAF-Debatte: ein Vorabdruck aus dem neuen, demnächst erscheinenden Buch von Alexander Kluge, "Geschichten vom Kino"

Foto: STANDARD/Christian Fischer
es war ein richtiger videosommer, in dem meine erste begegnung mit alexander kluges werk stattfand. bei brütender salzburger hitze zogen wir uns seine frühen filme rein, fasziniert von deren eigentümlicher sprache, hin- und herschwankend zwischen aufregung und verlangsamung, dem toten punkt entgegen, der in jedem film auf uns zu warten schien, um uns danach wieder auszuspucken als etwas verändertes.

wenn zeitvernichtung, wie er schreibt, ein gegenpol des kinos ist, war hier spürbar zeitgewinnung zu holen, d.h. die sinnliche erfahrung von zeit, oder vielmehr von zeitordnungen, zeitverhältnissen. immer wieder, so bemerkte ich auch später, geht es in seinem ästhetischen kosmos um beschleunigung und bremsvorgänge, um lücken, risse oder überlappungen, die den destruktiven takt der geschichte momenthaft unterbrechen können oder der permanenten enteignung der zeit, die uns bleibt, entgegenarbeiten.

dem kino, das aus "zufall, ernstem charakter (siehe die sorgfalt des vorführers sigrist), genie, inkompetenz und glück und zufall" besteht, so kluge in seinem vorwort zu seinem eben erscheinenden buch geschichten vom kino, gilt sicherlich seine größte aufmerksamkeit. und dieses kino hat als hoch arbeitsteiliges medium, an dem die kollektiven phantasmen und wünsche hängen, der magnetismus der vielen, wahrlich zahlreiche eingänge, türen, die er zu öffnen, und einsatzpunkte, die er zu vernetzen versteht.

dennoch habe ich in jenem videosommer seine filme von ihrer literarischen seite her gesehen, sie als literarische äußerung verstanden, als literatur, die es nicht mehr in der schrift alleine aushält, was deren literarizität nur noch zu unterstreichen schien. ich hörte texte im film, zu denen sich bald texte, die manchmal als drehbücher daherkamen, gesellten. drehbücher, die sich sozusagen auf der warteliste des unverfilmten befanden, welches ihn so fasziniert, weil es zum utopischen führt.

autorenfernsehen ...

es wurde mir damals klar, aus was ein schriftsteller zusammengesetzt sein kann. aus einer juristischen tätigkeit für das frankfurter institut für sozialforschung beispielsweise, aus einer zeit als regieassistent bei fritz lang, später selbst als filmemachender bestandteil des deutschen autorenfilms, regieanweisungen der anderen art ausgebend, aus zahlreichen literarischen schriften, die alleine, und theoretischen, die mit einem gegenüber verfasst worden sind, ja, aus einer coautorschaft einer rechtlichen struktur, die ihn zu einem bestandteil des deutschen privatfernsehens macht, das bei ihm zum autoren- oder herausgeberfernsehen wird, und aus jeder menge arbeitswut, die stets neue produktionszusammenhänge zu gestalten sucht.

aus so einer zusammengesetztheit resultiert natürlich ein ästhetisches denken, das nicht alleine aus dem schriftuniversum oder dem arsenal der bilder, der bewegten und unbewegten, oder gar in einem medium alleine aufgeht, ein denken, das die medien- und genreüberschreitung sucht, sich sozusagen ständig etwas aus einem anderen medium ausborgt, um es dann verändert oder gar nicht mehr zurückzugeben. ein denken, das ästhetische schmuggeldienste einführt, das das enge denken in klaren medienformatierungen durchbricht, und dabei sicherlich den grundstrom der mündlichkeit, der unserer gesellschaft zugrundeliegt, etwas mehr hervorhebt als anderes. und darin ist es wiederum das gespräch, das ihm als grundelement und ausgangspunkt seiner arbeit dient, jene situation, die sich durch angewiesenheit aufeinander und das wagnis des kontakts auszeichnet.

es ist ja auch eine höchst eigenartige situation, in der sich die gesprächspartner in kluges tv-sendungen begegnen. aus dem off er selbst, immer schon in den jahrhunderten und in der gegenwart gleichzeitig sitzend, hin- und herspringend, dabei immer die spannung haltend. aber das wirklich merkwürdige ist, wie sich diese gesprächspartner auf diese spannung einlassen können, mitziehen bei jenem verfahren, das einen an walter benjamin denken lässt. ein wenig magie muss im spiel sein.

Verwirrspiele

versteht sich, dass diese gespräche manchmal auch inszeniert sind, eine fiktion, die vom publikum oft nicht als diese akzeptiert wird, selbst wenn es sich um einen sklavenhändler aus dem 18. jahrhundert handelt, der da angeblich live mit ihm gesprochen habe. eines seiner verwirrspiele des dokumentarischen und fiktionalen, die wir ansonsten meist als geschiedene welten serviert bekommen, als wäre das so leicht möglich.

doch wollen wir wirklich entscheiden, ob es jenes ehepaar gibt, das in beirut auf dem grundriss ihres zerbombten hauses ein zeltkino betreibt, oder jene exekution eines elefanten, für die es gar ein foto geben soll? wir müssen uns um die sedimente konkreter menschlicher erfahrungen, die in seinen texten gelagert sind, nicht sorgen, sie sind in einem ästhetischen zusammenhang so organisiert, dass sie sinn ergeben, der ihnen gerecht wird, weil er ihnen nicht die unsichtbare gewalt zufügt, den vampirismus einer erzählhierarchie, der sie in dienstverhältnisse zwingt.

eigenartige tierwelt

ein zusammenhang, in dem auch die wahrnehmungsvorgänge von seeschnecken, amöben, einzellern, fliegen ihren platz haben, oder die sprache der hunde, elefanten, aber auch drachen gehör findet. es ist eine eigenartige tierwelt, die seine texte durchquert, eine tierwelt, die die ganze figur der menschlichkeit aufgenommen zu haben scheint und sie uns nun etwas melancholisch entgegenhält, als ob wir uns nicht mehr darauf verstünden.

nur in der spezifischen klugeschen komik halten wir dies aus, wir, die wir die vergesslichen tiere sind. wir, die wir beispielsweise so gerne vergessen, wie fakten und wünsche gleichermaßen die wirklichkeit ergeben, in der wir leben. wir, die wir vergessen, wie schnell wir uns unserer zeit enteignen lassen. und doch: er sei eine zapperfalle, erinnere ich mich, hat er bei einer lesung gesagt und sich gefreut. bei dieser zapperfalle wird magie im spiel sein, man möge sie ordentlich feiern! (kathrin röggla)

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Weniger als ein Jahr nach der 350 Erzählungen umfassenden Prosasammlung Tür an Tür mit einem anderen Leben publiziert Alexander Kluge dieser Tage einen weiteren großen Wurf: Geschichten vom Kino heißt das wieder bei Suhrkamp erscheinende Buch, mit dem der 1932 in Halberstadt geborene Autor einen großen Bogen spannt von Szenen aus der Geschichte eines jungen und zugleich uralten Mediums bis hin zu autobiografischen Momentaufnahmen: Der Schüler Adornos und von Fritz Lang hatte mit Filmen wie Die Patriotin wesentlich das "Neue Deutsche Kino" der 60er- und 70er-Jahre mitgeprägt.

Dass parallel zum Buch bei Zweitausendeins eine 16-teilige DVD-Edition seiner Kinoarbeiten erscheint, passt zum Bild eines Künstlers, der in den letzten Jahren zunehmend sein umfängliches Gesamtwerk neu sortiert: 1999 hatte eine zweibändige Chronik der Gefühle sämtliche bis zu diesem Zeitpunkt erschienen literarischen Texte Kluges versammelt. Es folgte 2001 die nicht weniger opulente "gemeinsame Philosophie" mit Oskar Negt - Der unterschätzte Mensch. (cp/ DER STANDARD, Printausgabe, 14.02.2007)