Zur Person:
Lüder Deecke ist Facharzt für Neurologie und Psychiatrie in Wien. Vor kurzem emeritiert, war er Leiter der Abteilung für Klinische Neurologie am AKH Wien.

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Wie treffen Menschen Kaufentscheidungen? Wie ändert sich der normale Kaufprozess, wenn er zum Suchtverhalten wird? Welche psychischen Störungen können mit pathologischem Kaufen einhergehen? Lüder Deecke, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie in Wien will die psychologische 'Anmutung' der Waren und das Kaufen an sich nicht verteufeln, da er an den mündigen Konsumenten glaubt. Im Interview mit Marietta Türk erklärt er, was beim Kaufen im Gehirn eines Menschen vor sich geht und wann das Verhalten pathologisch wird.

derStandard.at: Was geschieht beim Kaufen im menschlichen Gehirn und welche neurologischen Zusammenhänge sind dabei relevant? Wie wird von Seiten des Marketings nachgeholfen?

Deecke: Im Grunde genommen sind wir unser Leben lang Kinder und Kinder werden von Dingen, Sachen, Gegenständen angemutet. Wir wollen immer alles haben. Den Begriff Anmutung (Wirkung von der Erscheinung eines Objektes auf den Betrachter, Anm.) gibt es in der Psychologie und dieses Prinzip macht sich das Marketing zu Nutze. Dinge werden ästhetisch so angeboten, dass sie einen hohen Anmutungscharakter haben.

Unter Zuhilfenahme der modernen Psychologie, der Neurologie und auch der Hirnforschung wird die Anmutung natürlich immer raffinierter, so dass man faktisch nicht widerstehen kann und das Nein-Sagen immer schwerer wird. Das ist ein interessantes Phänomen in unserer modernen Zeit, das ich gar nicht einmal verteufeln will, weil sich ja doch das einzelne Individuum frei entscheiden und äußern kann.

derStandard.at: In welcher Region geschieht die Kaufentscheidung im Gehirn?

Deecke: Andere Forscher sagen, dass der Mensch determiniert ist, ich bin aber der Meinung, dass der Mensch einen freien Willen hat. Wir können uns entscheiden, vor allen Dingen können wir auch etwas unterlassen. Es ist eine Frage der Selbstdisziplin, die umgelegt auf das Gehirn im Stirnhirn sitzt. Im Frontalhirn sitzen der Wille, die Entscheidung und die vernünftige Abwägung. Das brauchen wir um ein so genanntes Judgement, ein Qualitätsurteil abzugeben über das was angeboten wird. Beim Entscheidungsprozess im Gehirn haben wir auch noch andere Dinge im 'Hinterkopf': Warentests, Konsumentenschutzerwägungen, natürlich auch den Preis und die Attraktivität der Ware.

derStandard.at: Sind wir in den Fängen der Hersteller, der Multis und Großkonzerne?

Deecke: Wir haben sozusagen eine soziale Marktwirtschaft. Selbstverständlich sind wir in dieser Hinsicht in den Fängen der Multis, der Läden und Anbieter, aber wir müssten nicht kaufen: der Kunde ist noch immer König – und wenn er nicht kauft, bleiben sie auf ihren Produkten sitzen und die Waren bleiben Ladenhüter.

Der Kunde kann mündig sein, nur hapert es am Zusammenhalt: zum Beispiel von Kindern hergestellte Waren generell nicht zu kaufen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch das Prinzip der Nachhaltigkeit. Wir können nicht immer nur konsumieren und kaufen. Wir müssen auch Rücksicht auf unseren blauen Planeten Erde nehmen. Auch hier gibt es viele Bestrebungen, aber man muss vielleicht noch mehr machen.

derStandard.at Wie laufen die Mechanismen bei Ablehnung oder Akzeptanz eines Produktes im Gehirn ab?

Deecke: Wir haben mit MEG (Magnet-Enzephalographie) sehr interessante Untersuchungen in der angewandten Hirnforschung gemacht. Unter Ableitung der Hirnströme und der Hirnmagnetfelder untersuchten wir, wie sich so etwas wie Akzeptanz oder Ablehnung im Gehirn abspielt. Dabei sieht man was im Gehirn passiert, wenn ich einen sehr attraktiven Artikel beurteile und einen weniger attraktiven. Zum Beispiel hat ein Kleid weniger Anziehungswert für den Betrachter, wenn es an der Stange hängt, als wenn es von einer Dame getragen wird.

In dem Fall ist das Gehirn ein antwortendes, im Englischen heißt es 'responsive brain': Ein Stimulus, ein Reiz, in diesem Fall ist es ein Verkaufsartikel, wird vom Auge in ein Bild umgewandelt, das im Gehirn wiederum neu dargestellt, rekonstruiert wird. Dann wird es mit etwas schon Gewesenem verglichen. Das heißt unser Bilderkennen im Gehirn ist zunächst das Vergleichen mit vorher Gesehenem.

Dann geht das im Gehirn in ein Bewertungsschema, das auf dieser 'Schon-Einmal-Gesehen-Erfahrung' aufgebaut. Jeder hat seinen Geschmack und kann Bilder bewerten. Wenn etwas große Begeisterung produziert, sieht man das an den Hirnströmen und den Magnetfeldern. Man untersucht dabei Aktivität und Inaktivität - die Aktivität wird bei Gefallen einfach größer, es beteiligen sich viel mehr Gehirnzellen an dem Prozess.

derStandard.at: Was geschieht nach der Bewertung?

Deecke: Nach der Bewertung kommt meistens noch eine Entscheidung beziehungsweise eine motorische Aktion: Kaufe ich oder kaufe ich nicht. Man kann vielleicht noch hinzufügen 'kaufe ich vielleicht' oder 'mal sehen, was es sonst noch gibt'. Die Kaufentscheidung macht man erst am Ende des Prozesses.

Manche Dinge muss man auch tatsächlich 'begreifen', wir ertasten um zu evaluieren. Wir können zum Beispiel sehr gut die Oberflächenbeschaffenheit ertasten. Mit anderen Worten: wir sind natürlich mit allen unseren Sinnen am Kaufprozess beteiligt. Aber zuerst wollen wir alles aufnehmen und sehen. Wir wollen als gut informierte Kunden die richtige Kaufentscheidung treffen. Dazu gehört natürlich auch die Erkundigung bei der Konkurrenz. Im Grunde genommen ist unsere Motivation für das Kaufen doch der Preis – es muss einem gefallen, aber der Preis spielt eine sehr große Rolle. Wir wollen immer günstig einkaufen und damit gibt man auch an. Möglicherweise kommt das von der Erziehung zur Sparsamkeit. Wenn man zwei Sofas hat, die gleich aussehen, dann nehme ich doch die günstigere.

derStandard.at: Wir haben bis jetzt vom gesunden Kaufverhalten gesprochen. Wie ändert sich der Kaufprozess, wenn er zum Suchtverhalten wird? Wann sprechen Sie im Unterschied zum normalen Kaufvorgang von Kaufsucht?

Deecke: Von einer Kaufsucht kann man im psychiatrischen Sinne sprechen, wie von anderen Süchten wie Tabletten-, Alkohol-, Rauch- und Spielsucht auch. Für Süchte muss man eine Veranlagung und eine Pathologie haben. Aber schon der ganz normale Mensch, der sich als gesund bezeichnet, kann in einen Kaufrausch geraten. Durch Alkoholeinfluss kann die Kauflust zum Beispiel ganz deutlich gesteigert werden. Aber meist ist es keine pathologische Sucht.

Es gibt tatsächlich Menschen, die nicht aufhören können. Zur Veranlagung kommen die modernen Tricks, mit denen die Anmutung hochgetrieben wird. Dazu kommt der noch nicht so kritisch geschulte Verstand der Jugendlichen. Leider ist es ja so, dass Jugendliche heute zum Teil sehr stark verschuldet sind. Sie bekommen durch die Werbung immer etwas untergejubelt, wozu sie gar nicht nein sagen können.

derStandard.at: Wie sieht eine Veranlagung zur Kaufsucht aus?

Deecke: Das sind Persönlichkeitsmerkmale. Die extremen Merkmale sind auf der einen Seite der Geizhals und auf der anderen Seite der Verschwender. Diese Grundtypen sind vererbt. Wenn man die reichsten Unternehmer untersucht, haben sie in der Grundpersönlichkeit immer eine gehörige Portion Geiz. Der Geiz ist ja eine Eigenschaft des Menschen, die nicht ganz negativ ist. Wenn man es Sparsamkeit nennt, ist die Bedeutung positiv.

derStandard.at: Welche psychischen Faktoren spielen neben der Veranlagung bei der Kaufsucht noch hinein?

Deecke: Wenn ich ein geringes Selbstbewusstsein habe, will ich angeben. Und wie kann ich besser protzen als mit einem wahnsinnigen Sportwagen? Es gibt aber auch psychiatrische und neurologische Krankheitsbilder, in deren Zusammenhang pathologisches Kaufverhalten oft auftritt. Eine dieser Krankheiten ist die Depression.

Man unterscheidet die gehemmte und die agitierte Depression. Letztere kann sehr in diese Richtung gehen. Es ist ja vieles auch Depression, was wir gar nicht wissen, zum Beispiel die maskierte Depression. Der Krankheitsprozess, der ja in unserem Gehirn drinsteckt, diktiert dann unser Verhalten. Dann gibt es die Depression im Sinne der manisch-depressiven Krankheit (MDK). Die manischen Phasen sind natürlich absolute Kaufsuchtphasen. Auch die Zwangskrankheit kann diese Facette haben – man nennt das dann den Verarmungswahn.

derStandard.at: Wo würden Sie die Grenze ziehen, was ist noch Kaufrausch und wann wird es dann pathologisch?

Deecke: Erstens wird es schon pathologisch, wenn sich das Kaufverhalten nicht mehr dem Geldbeutel anpasst. Ich darf nur kaufen, was ich mir leisten kann. Aber man darf natürlich nicht jeden Schuldner gleich als pathologisch bezeichnen. Das pathologische ist wie bei der Tablettensucht, Spielsucht und anderen Süchten die Abhängigkeit.

derStandard.at: Wie kann man Kaufsucht therapieren und wie könnte man frühzeitig entgegenwirken?

Deecke: Mit Verhaltenstherapie - damit hat man auch gute Erfolge. Wichtig ist aber die Prävention mit der Erziehung durch die Eltern, indem man gesundes Kaufverhalten vormacht. Auch ein Unterrichtsfach in der Schule könnte sich der Kaufproblematik annehmen. Dann kommt noch dazu, dass das Internet-Kaufen auch so wahnsinnig attraktiv ist. Beim Barkauf muss man mehr Disziplin haben. Da bekommt man nur das, was man auch tatsächlich im Geldbeutel hat. Bargeldloses Kaufen nimmt zu und damit kann nicht jeder fertig werden.