Andreas Brandhorst: "Das Erwachen"
Broschiert, 736 Seiten, € 17,50, Piper 2017
Also, von allen Musen, die nachts durch den Äther schweben, küsst Andreas Brandhorst immer die Dicke. Vielleicht hat er ja einen so guten Schlaf, dass die Schmächtigeren, deren Inspirationskraft nur für 300 Seiten reicht, ihn nicht wachkriegen. "Das Erwachen" ist sogar noch voluminöser als Brandhorsts vorangegangene Space Operas "Omni" und "Das Arkonadia-Rätsel" – und das, obwohl es in einer wesentlich einfacheren Welt angesiedelt ist.
... nämlich der unseren, mit ein paar Jahren obendrauf. Mehrere Nationen sind auf dem Mond vertreten, eine bemannte Mission ist zum Mars unterwegs und die ersten Hyperloop-Strecken laufen auch schon. Ansonsten sieht die Romanwelt aber noch ganz wie die unsere aus, inklusive der nationalen Konfliktlinien. Und in dieser vertrauten Welt bahnt sich nun eine technologische Singularität an.
Pandoras Büchsenöffner
Brandhorst verteilt das Geschehen auf ein halbes Dutzend Hauptfiguren, allen voran der 31-jährige Hacker Axel Krohn aus Deutschland. Der handelt im Darknet mit Informationen und träumt davon, sich eine eigene Südseeinsel zu kaufen. Wir dürfen ihn uns allerdings nicht als schmerbäuchigen Klischee-Geek vorstellen. Axel ist auch im realen Leben durchaus kampferprobt, geschuldet seiner Vergangenheit als kurdischer Terrorist. "Axel Krohn" ist in Wirklichkeit nur eine Tarnidentität.
Ungeachtet seiner unbestreitbaren Fähigkeiten sollte aber auch nicht unerwähnt bleiben, dass Axel de facto die größte Dumpfbacke der Menschheitsgeschichte ist. Als er sich in ein Cyberwaffen-Depot der NSA einhackt, wird er ertappt und kappt die Verbindung so abrupt, dass eines der Programme ins Netz entkommt und das Verhängnis seinen Lauf nehmen kann: Ein Ozean aus Daten, und darin ein winziger Tropfen, ein kleines Programm, nicht einmal ein Megabyte groß. [...] Es infizierte die Systemdateien und schickte Kopien von sich ins Netz, die ihrerseits Kopien ins Datenmeer sandten, nachdem sie sich in Computersystemen eingenistet hatten. In Windeseile verknüpft das Infiltratorprogramm infizierte Rechner zu einem immer größeren Botnetz, bis aus der zunehmenden Quantität eine neue Qualität entspringt: Die elektronischen Synapsen verknüpfen sich zu einem künstlichen Gehirn, das sich seiner selbst bewusst wird. Der Countdown hatte begonnen.
Warnende Botschaft
"Wir sind dem Abgrund viel näher, als ich zunächst dachte", menetekelte Brandhorst in einem begleitenden Interview. Er nimmt Bezug auf Stephen Hawking und andere Singularitätswarner und recherchierte für seinen Roman, wie übernahmeanfällig unsere vernetzte Welt geworden ist. Die möglichen Folgen eines Ausfalls sämtlicher moderner Technologie erleben die Romanfiguren teils am eigenen Leib mit, teils spielen sie sie auch nur in ausführlichen Gesprächen durch (irgendwie muss man Infodumps ja unterbringen). Was die Gestaltung eines Wissenschaftsthrillers anbelangt, liegt Brandhorst ungefähr in der Mitte zwischen Marc Elsberg und Frank Schätzing.
Die weiteren Figuren im Geschehen: Giselle Leroy, eine Whistleblower-Aktivistin und Axels potenzielles Love Interest. Coorain Coogan, Agent einer UN-Eingreiftruppe gegen Cyberattacken mit Crocodile-Dundee-Anmutung. "Dark Rider", ein geheimnisvoller Akteur im Darknet. Und Viktoria Jorun Dahl, eine Sicherheitsexpertin im Auftrag der UNO. Sie listet noch vor dem KI-Ernstfall bei einem Meeting die (erschreckend hohen) Wahrscheinlichkeiten für kriegerische Auseinandersetzungen auf und denkt sich: "Wäre es nicht schön, wenn jemand käme, der alle Probleme für uns lösen würde?" Be careful what you wish for ...
Tempo!
Der Rest des Romans ist ein einziger Wettlauf gegen die Zeit. Zum einen wird hektisch versucht, den "Take-off" zu verhindern, also den Moment, in dem aus der bereits erwachten Maschinenintelligenz eine Superintelligenz wird (um im Wording des Romans zu bleiben) und die Menschheit nur noch unter "planetare Fauna" fällt. Zum anderen soll Axel mit der KI in Verbindung treten, da sie ein nahezu kindliches Interesse an ihrem "Schöpfer" bekundet hat.
Kurz: Es wird viel gerannt, gefahren und geflogen werden – und das unter sich stetig verschlechternden Rahmenbedingungen. Auf weltweite Stromausfälle folgen erste Aktivitäten der KI und der von ihr gesteuerten Drohnen (ein Touch von Skynet), Unruhen in der Bevölkerung und Konflikte zwischen den nationalstaatlichen Regierungen. Mitten im universalen Katastrophenszenario steht dann auch noch ein hübscher Reim: Der Golfstrom kollabiert, der Jetstream onduliert. Dass es zu allem Überfluss auch noch im August zu schneien beginnt, ist zwar nicht die Schuld der Maschinenintelligenz, aber Brandhorst lässt eben nix aus.
Weniger ist oft mehr
Fraglos ist "Das Erwachen" etwas lang geraten. Wo man es abschlanken könnte, ist auf den ersten Blick gar nicht so leicht zu sagen – handelt es sich doch um ein dichtes Erzählgeflecht, und irgendwie hängt ja auch alles zusammen. Bei genauerem Hinschauen zeigen sich aber Redundanzen. Brandhorst setzt auf die Strategie, alles auszuerzählen. Wenn sich eine Person von A nach B bewegt, erfahren wir auch, was sie unterwegs so alles sieht. Und das sind öfter als einmal Dinge, die andere Protagonisten zuvor auch schon gesehen haben – Stichwort Bankkunden, die sich über ihre nicht mehr funktionierenden Karten beschweren. Auf Dauer summiert sich das.
Anderes Beispiel: Der (zu diesem Zeitpunkt nicht mehr geheimnisvolle) Dark Rider erklärt Giselle die Folgen des "Take-offs" und schildert ihr Axels Werdegang. Beides wurde zuvor bereits geklärt. Es würde also eine kurze Info reichen, dass Giselle jetzt auf den neuesten Stand gebracht ist – beim Gespräch selbst müssten wir LeserInnen eigentlich nicht mehr dabei sein. Das geht mitunter doch etwas in Richtung des berühmten Spruchs von Karl Valentin: "Es ist schon alles gesagt, nur noch nicht von allen."
Resümee
Aber Auserzählen ist ja ein zulässiges Stilmittel – und kommt all denen entgegen, die sich gerne etwas länger von einem Roman in seinen Bann schlagen lassen. Eine Pioniertat ist "Das Erwachen" angesichts der Vielzahl schon erschienener SF-Romane über technologische Singularitäten natürlich nicht, aber dafür ein solider (Agenten-)Thriller Marke Hollywood.
Ein positives Detail sei noch extra erwähnt: Wie schon in früheren Werken des Autors wird uns auch hier wieder ein größenwahnsinniger Schurke mit zerstörerischen Plänen begegnen – diesmal ist er allerdings als solcher nicht von Anfang an ersichtlich, sondern enthüllt erst nach und nach, was in ihm steckt. Das ist wirklich schön gemacht. Ein paar Asse hat ein alter Profi wie Andreas Brandhorst eben immer noch im Ärmel.