Benjamin Percy: "Roter Mond"
Gebundene Ausgabe, 640 Seiten, € 20,60, Penhaligon 2014 (Original: "Red Moon", 2013)
Unerwartet gefesselt war ich von diesem Roman - unerwartet deshalb, weil er von Werwölfen handelt, was vermutlich einen Hund, aber normalerweise nicht mich hinterm Ofen hervorlockt. Doch sind die Werwölfe - im Roman auch nicht ganz neu Lykaner genannt - nur Mittel zum Zweck, um das Bild einer zerfallenden US-Gesellschaft zu zeichnen. Und das ist schreckenerregender als jede Verwandlung bei Vollmond.
Benjamin Percy ist ein noch junger Autor, der in seinen bisherigen Werken - diversen Kurzgeschichten sowie dem Roman "Wölfe der Nacht" ("The Wilding") - die Natur seines Heimatstaats Oregon nicht nur beschrieb, sondern ansatzweise mythisch überhöhte. "Roter Mond", in dem Oregon ebenfalls einen wichtigen Schauplatz bildet, ist nun Percys erster waschechter Genreroman, Untergattung Alternate History. Wird aber wegen Percys Mainstreamvergangenheit ebenso allgemein rezipiert wie seinerzeit Philip Roths "Verschwörung gegen Amerika". Auch das war eine Alternativweltgeschichte, und trotzdem fiel keinem Feuilletonisten beim Rezensieren eine Perle aus der Krone. Genregrenzen sind eben durchlässig, vorausgesetzt man kommt aus der "richtigen" Richtung.
... siehe auch den Cover-Blurb "Hätte George Orwell sich eine Zukunft mit Werwölfen ausgemalt, dann wäre genau dieser Roman dabei herausgekommen", der von niemand Geringerem als von John Irving stammt. Auch wenn ich in "Roter Mond" keine großen Parallelen zu Orwell sehen kann - dann schon eher zum Spätwerk von Stephen King.
Die Prämisse
Sei es, wie es sei: Rein in einen ersten Infodump. Schon vor Jahrhunderten ist eine Lobos genannte Prionenkrankheit in die Menschheit eingesickert, die die Infizierten in etwas verwandelt, das nicht "Werwolf" genannt werden will. Nicht unbedingt bei Vollmond übrigens, sondern eher dann, wenn die Betroffenen in einen besonderen Erregungszustand verfallen. Später auch willentlich. Gegenwärtig sind etwa 5,2 Prozent der Bevölkerung infiziert. Die Zeiten offener Verfolgung sind vorbei, die Angst vor den Lykanern hat sich aber nur unter die Oberfläche zurückgezogen. Mit speziellen Medikamenten wird sichergestellt, dass sich registrierte Lykaner nicht verwandeln können. Allerdings haben diese Medikamente psychische Nebenwirkungen, die nicht alle Lykaner hinnehmen wollen - eine erste Konfliktlinie ist gezogen.
Eine zweite befindet sich einige tausend Kilometer weiter östlich in einem subarktischen Gebiet zwischen Finnland und Russland. Dort wurde 1948 - also im selben Jahr wie Israel - der Staat Lupos gegründet, in dem Lykaner aus aller Welt eine neue - wenn auch eisige - Heimat gefunden haben. Das US-Militär sorgt in dem von Unruhen geplagten Staat für Ordnung. Natürlich aus humanitären Gründen und nicht etwa, weil dort wertvolle Uranvorkommen entdeckt wurden ...
Star-crossed lovers
"Roter Mond" erstreckt sich mit Zeit- und Ortssprüngen über einige Jahre hinweg. Der Romanbeginn fällt in die Phase, in der der Status quo die ersten größeren Risse erleidet. Der Teenager Patrick bekommt dies sehr direkt zu spüren: Er ist an Bord eines Flugzeugs, als ein Lykaner im Rahmen eines an 9/11 erinnernden Terroranschlags systematisch sämtliche Passagiere abschlachtet. Patrick überlebt als einziger - indem er sich unter einer Frauenleiche versteckt: Kein Heldenmaterial offenbar, aus dem der leicht überspannte junge Mann da geschnitzt ist. Allerdings wird er sich im Verlauf des Romans stark weiterentwickeln - zu sehr sogar, denn im Zuge des Erwachsenwerdens wird er einen Teil seiner Seele verlieren.
Patricks Gegenstück ist die etwa gleichaltrige Claire, eine Lykanerin. Sie will nichts lieber als weg aus der Enge ihrer Familie - ein Wunsch, der sich schneller und tragischer erfüllt, als Claire ahnen konnte. Ihre Eltern werden bei einer ersten staatlichen "Säuberungsaktion" getötet. Claire selbst kann flüchten und versucht zu ihrer Tante Miriam zu gelangen, die sich als eine Art Sarah Connor ("Terminator", nicht falsch gesungene deutsche Hymne) auf dem Land versteckt und für den Überlebenskampf trainiert. Unterwegs wird es zu einer ersten Begegnung mit Patrick kommen - eine der Gelegenheiten übrigens, bei denen Percy den Zufall gar zu sehr strapaziert. Was zum Glück die einzige erzählerische Schwäche des Romans bleibt.
Patrick und Claire scheinen das typische Paar von star-crossed lovers zu bilden, das einen Roman wie diesen trägt. Doch steht die (ohnehin nur sehr vage) Liebesgeschichte zwischen den beiden in keinster Weise im Vordergrund. Tatsächlich werden sie bald schon wieder getrennt und schlagen sehr unterschiedliche Lebenswege ein, während die Welt rings um sie den Bach runter geht - Erstbegegnung und mögliches Wiedersehen am Ende bilden nur einen lockeren Rahmen.
Stufen der Eskalation
Als dritte Hauptperson ist noch Chase Williams zu nennen, der Playboy-Gouverneur von Oregon mit Ambitionen auf ein höheres Amt. Hetze gegen Lykaner scheint ihm das Mittel der Stunde, um seine Ziele zu erreichen. Obwohl Chase überaus berechnend vorgeht und entscheidend zum immer weiter eskalierenden Konflikt zwischen Lykanern und nichtinfizierten Menschen beiträgt, macht Percy ihn übrigens nicht zum Hauptschurken des Romans. Überhaupt ändert sich für Chase alles, als er bei einem Racheanschlag selbst infiziert wird - leider sind die wenigsten Veränderungen in "Roter Mond" solche zum Besseren.
Derweil dreht sich die Spirale von Terroranschlägen und staatlichen Gegenmaßnahmen immer weiter. "Dies sind besondere Zeiten. Amerika wird angegriffen." Das kennt man ja. Bis eines Tages schließlich eine Atombombe hochgeht ...
Der Untergang der USA
"Roter Mond" ist eine Parabel - aber worauf? Vieles klingt hier an: Zunächst natürlich der 11. September mit all seinen Folgeerscheinungen - nicht zuletzt der neuen Maxime, Freiheit für Sicherheit zu opfern. Genauso aber auch ethnische Konflikte und die Bürgerrechtsbewegung der 60er Jahre (die es in der Romanwelt übrigens unabhängig vom Lykanerthema auch gegeben hat). Oder der zwischen Hysterie und Ignoranz pendelnde öffentliche Umgang mit Aids in den 80ern. Die Bush-Kriege in rohstoffreichen "Schurkenstaaten". Die Gegenkultur der 60er und 70er Jahre, die entweder im Rückzug aufs Private oder in Terrorismus à la "Symbionese Liberation Army" mündete. Der Aufbau paramilitärischer Gruppen in der Provinz, die den Staat als ihren Feind ansehen. Und der immer stärker schwindende Wille, mit Anhängern der politischen Gegenseite einen Kompromiss zu finden.
In manchen Rezensionen wurde bemängelt, das Percy gleichsetze, was nicht gleichzusetzen sei. Jaja, der Islam ist keine Krankheit, HIV-Infizierte fressen keine Menschen und Israel wird nicht von Werwölfen bewohnt. Aber solche Direktvergleiche greifen zu kurz und kommen ohnehin nicht von Percy selbst. Der hat sein metaphorisches Szenario bewusst vieldeutig angelegt. Und falls es jemand doch gerne auf einen Nenner gebracht hätte: Da gibt es diese kurze Schlüsselpassage im ersten Teil, in der eine Highschool-Lehrerin anhand von "Othello" beiläufig erwähnt, worum es wirklich geht - um den Umgang mit dem Anderen an sich.
Ist Benjamin Percy nun ein Realist oder ein Pessimist? Hoffnung auf ein Happy End scheint es angesichts der unglaublich düsteren Richtung, die "Roter Mond" einschlägt, allenfalls noch auf der persönlichen Ebene zu geben, nicht jedoch auf der gesamtgesellschaftlichen. Aber zum Glück wissen wir ja, dass Science Fiction stets die Gegenwart widerspiegelt und nicht die Zukunft vorhersagt. Beeindruckender Roman jedenfalls. Und das mit Werwölfen!