Wien – Zu Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes werden wohl weiterhin keine abweichenden Stellungnahmen einzelner Verfassungsrichter veröffentlicht. Denn die ÖVP kann der Forderung von SPÖ-Justizsprecher Hannes Jarolim, beim Verfassungsgerichtshof (VfGH) die "Dissenting Opinion" (Sondervotum) zu ermöglichen, "wenig bis gar nichts" abgewinnen. Er sehe "keinen Mehrwert" darin, sagte ÖVP-Klubobmann Reinhold Lopatka am Montag.

Beim VfGH sei das Vertrauen in das Kollegium entscheidend. Außerdem stärke es den einzelnen Verfassungsrichter, wenn die mit Mehrheit getroffenen Entscheidungen ohne weitere Stellungnahmen verkündet werden, hielt Lopatka dem SPÖ-Justizsprecher entgegen. Deshalb trete die ÖVP dafür ein, die bisherige Praxis beizubehalten.

Bereits Gespräche über Wahlrechtsänderung

Auch dem Argument Jarolims, dass die Darlegung der unterschiedlichen Ansichten der VfGH-Mitglieder eine gute Basis für einen Diskurs etwa über eine Wahlrechtsänderung wäre, kann Lopatka nichts abgewinnen. Gerade beim Wahlrecht brauche es das nicht. Dazu hätten die Parteien, die sie auszuverhandeln haben, ohnehin klare Vorstellungen, "da brauche ich nicht noch eine zusätzliche Opinion".

Über eine Wahlrechtsänderung gab es bereits erste Gespräche, berichtete Lopatka. SPÖ und ÖVP haben schon Mitte Juli einen Antrag unter anderem zur Einführung eines zentralen Wählerregisters eingebracht. Über weitere durch den VfGH-Spruch aktuell gewordene Punkte wie Wahlbeisitzer oder Briefwahlauszählung soll im Herbst verhandelt werden.

Jarolim hat angesichts der – von ihm skeptisch betrachteten – Aufhebung der Hofburg-Stichwahl am Sonntag die Einführung der Dissenting Opinion verlangt, eine alte Forderung der SPÖ. Die ÖVP hat das "Sondervotum" immer abgelehnt, ebenso der Gerichtshof selbst. Dessen Präsident Gerhart Holzinger lehnte es nach der Stichwahl-Entscheidung auch wieder ab, das Ergebnis der Abstimmung zu veröffentlichen. Zur aktuellen Diskussion gab es am Montag keine Stellungnahme aus dem VfGH.

FPÖ dagegen, Neos und Grüne dafür

Die FPÖ ist jetzt wieder – wie vor dem Ortstafel-Erkenntnis 2001 – gegen die Veröffentlichung abweichender Stellungnahmen, ebenso das Team Stronach. Grüne und Neos unterstützen hingegen die SPÖ-Forderung.

"Ich halte nichts davon", lehnte FPÖ-Verfassungssprecher Harald Stefan die Möglichkeit ab, dass überstimmte VfGH-Mitglieder von einem Erkenntnis abweichende Stellungnahmen veröffentlichen können. Es sei besser, wenn der VfGH als Kollegialorgan entscheide und die Entscheidung verkünde. Denn die Anonymität sei ein Schutz für die einzelnen Richter, auf die sonst Druck – etwa auch über die sozialen Netzwerke – ausgeübt werden könnte. Das sei jetzt die Linie der FPÖ, betonte Stefan, angesprochen darauf, dass die Freiheitlichen nach dem Ortstafel-Erkenntnis für die Einführung der Dissenting Opinion waren. Auch Dieter Böhmdorfer – der jetzt die erfolgreiche Wahlanfechtung verfasst hat – hat sich damals als Justizminister dafür starkgemacht.

Der grüne Verfassungssprecher Albert Steinhauser hält den Vorschlag hingegen für sinnvoll. Mit "Sondervoten" würde die Transparenz der VfGH-Entscheidungen erhöht. Und sie wären ein wichtiger Beitrag für die spätere Rechtsentwicklung. Zudem bestehe in der heutigen Medienwelt bei wichtigen Entscheidungen immer die Gefahr, dass danach informelle Informationen oder Gerüchte die Runde machen. "Da ist es mir lieber, wenn über eine fundierte wissenschaftliche Darstellung berichtet wird." Auch Steinhauser missfällt die "fingierte Einheitlichkeit", die durch die jetzige Vorgangsweise vermittelt werde. Vor Pluralismus müsse man sich nicht fürchten – und die Verfassungsrichter seien unabhängig genug, um sich nicht durch populistische Argumente treiben oder unter Druck setzen zu lassen.

Neos-Verfassungssprecher Nikolaus Scherak "wüsste nicht, was dagegen sprechen könnte", wenn abweichende Meinungen einzelner Verfassungsrichter dargestellt werden können. Das wäre auch nichts Neues, bei manchen Gerichtshöfen – etwa beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte – bestehe die Möglichkeit der Dissenting Opinion. Sie werde allerdings nicht sehr häufig genützt, davon könnte man, meint Scherak, wohl auch beim VfGH ausgehen.

Das Team Stronach ist – laut Ö1-"Mittagsjournal" – gegen die Dissenting Opinion, weil Richter gegeneinander ausgespielt und instrumentalisiert werden könnten. (APA, 1.8.2016)