Das politische Geschehen im Irak ist wie ein besonders raffinierter Roman mit vielen Erzählsträngen: Fasziniert blickt man auf einen und erkennt nicht so ohne weiteres, wie die anderen in ihn hineinverwoben sind. In Bagdad sieht man zuallererst eine große Regierungs- und Verfassungskrise, einen Ministerpräsidenten, der de facto keine Regierung mehr hat und auch keine neue bilden kann, sowie ein gelähmtes Parlament, gegen das sich der – wohl orchestrierte – Volkszorn richtet.

Herbeigeführt hat die Situation der schiitische Mullah Muktada al-Sadr, wohlweislich um dem Regierungschef, Haidar al-Abadi, zur Hilfe zu eilen, der von sehr unterschiedlichen Gruppen im Parlament daran gehindert wird, seine Reformpläne zu verwirklichen. Aber das Motto, das sich Sadr auf die Fahnen schreibt – Aufräumen mit der Korruption und dem konfessionell-ethnischen Proporz -, stößt nicht nur bei Sadrs meist aus der schiitischen Unterschicht stammenden Anhängern auf Resonanz, sondern auch bei anderen Irakern und Irakerinnen.

So weit, so einfach – aber gleichzeitig geht in der heiligen schiitischen Stadt Najaf die Ära des unbestritten "stärksten" irakischen Ayatollahs, Ali Sistani, zu Ende. Sadr, dem die religiöse Qualifikation, ihn zu beerben, fehlt, versucht es auf dem Umweg über die Politik. Wenn er seinen Willen in Bagdad durchsetzt, dann ist er der mächtigste Mullah im Land. Was er danach vorhat, weiß keiner. (Gudrun Harrer, 1.5.2016)