Im vergangenen Jahr dominierte das Thema "Hasspostings" die mediale Berichterstattung zu sozialen Netzwerken. Die zunehmend aggressive Stimmung auf Facebook und Co., diverse flüchtlingsfeindliche Fakes und mitunter reale Folgen von verhetzenden und rassistischen Äußerungen machten regelmäßig Schlagzeilen.

Daneben vollzog sich aber auch eine andere Entwicklung. Zum Schutze vor angenommenen Bedrohungen und wegen als zu spärlich empfundener Polizeipräsenz formierten sich Bürgerwehren, die in letzter Zeit durch ihr Auftreten – etwa in Fohnsdorf oder Wien – in den Fokus gerückt sind.

Facebook-Phänomen

Gruppen dieser Art zeigen oft auch auf Facebook Präsenz und nutzen das weltgrößte Social Network auch für Austausch und Organisation. Der WebStandard hat sich das "Phänomen Bürgerwehr" daher auf dieser Ebene näher angesehen.

Insgesamt 60 Gruppen und Seiten mit regionalem Bezug wurden dafür auf Facebook aufgespürt und analysiert. 51 davon stammen aus Deutschland, neun aus Österreich. Die Liste ist freilich nicht vollständig, zumal es auch versteckte Gruppen und anderweitig organisierte Verbände gibt, liefert als Stichprobe aber Indizien für einige Annahmen.

Silvester-Ereignisse lösen Gründungswelle aus

Erkennbar wird etwa ein direkter Zusammenhang zur Flüchtlingskrise im Allgemeinen und zu den Vorfällen in der Silvesternacht in Köln und anderen Städten im Speziellen. Von allen entdeckten Bürgerwehr-Auftritten war überhaupt nur einer – die "Nachbarschaftshilfe Südoststeiermark" – vor 2015 gegründet worden.

Von 51 Gruppen und Seiten in Deutschland wurden 17 nach und zehn vor der Jahreswende gegründet. Herangezogen wurden dafür entweder das ersichtliche Erstellungsdatum (Seiten und offene Gruppen) oder Angaben in der Beschreibung, die auf die Kölner Ereignisse referenzieren.

Für 24 geschlossene Gruppen lässt sich keine eindeutige Aussage treffen, einige Beschreibungen legen aber ebenfalls einen Gründungszeitpunkt nach Neujahr nahe. Öfters wird etwa als Zweck der Bürgerwehr explizit der Schutz bzw. die Begleitung von Frauen angegeben.

Da das neue Jahr zum Zeitpunkt der Erhebung gerade einmal drei Wochen alt war, wird ersichtlich, dass die Silvesternacht eine Bürgerwehr-Gründungswelle auf Facebook ausgelöst hat. Das gilt zumindest für Deutschland, für Österreich lässt sich schon aufgrund der sehr geringen Zahl an entsprechenden Gruppen und Seiten keine Aussage treffen.

Mitglieder und Likes

Die Anzahl der Likes bzw. Mitglieder zeigt wenig Überraschendes. Das Abgeben eines "Gefällt mir" für eine Seite fällt Nutzern deutlich leichter, als sich persönlicher mit einer Sache zu identifizieren und einer Gruppe beizutreten.

122 Likes verzeichnete die kleinste Seite (Bürgerwehr Ludwigshafen, Rheinland-Pfalz), über 3.500 die größte (Bürger Wien/Wien-Umgebung). Die kleinste Gruppe wiederum findet sich im äußersten Nordosten Deutschlands, Bürgerwehr Koserow, und kommt auf zwölf Mitglieder. Am meisten Mitglieder verzeichnet die Bürgerwehr Ortenau (Ortenaukreis, Baden-Württemberg). Die durchschnittliche Seite kommt auf 1.468 (Deutschland) bzw. 1.077 Likes (Österreich), Gruppen auf 169 bzw. 86 Mitglieder.

Es gibt einzelne größere Gruppen und Seiten, die aber keinen regionalen, sondern nur nationalen oder gar länderübergreifenden Bezug aufweisen und in der Erhebung nicht berücksichtigt wurden. Überschneidungen hinsichtlich Unterstützer und Mitglieder kommen trotzdem vor, einerseits aufgrund der Existenz mehrerer Auftritte für manche Städte, andererseits auch dadurch, dass einige User laut ihrem Profil gleich zahlreiche Bürgerwehren aus verschiedenen Orten "liken".

Geographische Verteilung

Der WebStandard hat die 60 Bürgerwehr-Auftritte auch als Karte umgesetzt. Eine Häufung von öffentlich auffindbaren Präsenzen im Osten Deutschlands, wo etwa die Pegida-Bewegung ihre Basis hat, ließ sich dabei nicht feststellen. Sachsen kommt zwar auf immerhin fünf örtlich unterscheidbare Einträge, ausgerechnet die größte Seite (Bürgerwehr Freital) mit 2.500 Mitgliedern wird aber seit Monaten nicht mehr betreut.

Der "Stern" hat vergangenen September auf Basis von Daten des Bundesamtes für Flüchtlinge und Migration eine Karte veröffentlicht, auf die die Anzahl der Asylanträge je Bundesland ersichtlich werden. Obwohl das führende Bundesland Nordrhein-Westfalen auch die meisten Bürgerwehr-Auftritte aufweist, ist auch hier keine genereller Zusammenhang erkennbar.

Innenministerium sieht Zunahme des Phänomens

Abzuwarten bleibt nun, ob sich der virtuelle Bürgerwehren-Boom auch in der Realität niederschlagen wird. Zunehmend mehr mediale Berichte legen eine solche Entwicklung nahe. Beim österreichischen Innenministerium sieht man eine Verstärkung des Phänomens seit vergangenem Jahr, eine Statistik wird darüber allerdings nicht geführt.

Die vermehrten Gründungen von Bürgerwehren beurteilt man im Ministerium als "Ausdruck des gestiegenen Sicherheitsbedürfnisses", wie man gegenüber dem WebStandard erklärt. Dieses laufe allerdings der Kriminalstatistik zuwider, die schon länger in vielen Bereichen rückläufig sei.

Vor einigen Wochen hatte Ministeriums-Sprecher Karl-Heinz Grundböck gegenüber dem ORF in Bezug auf die Flüchtlingskrise auch angegeben, dass durch den Zustrom an Schutzsuchenden kein Anstieg an Kriminalität zu bemerken sei, sehr wohl aber ein Anstieg an Vergehen gegen Flüchtlinge.

Keine Sonderrechte für Bürgerwehren

In Österreich aktiv in Erscheinung getretene Bürgerwehren in der jüngeren Vergangenheit fielen mitunter durch einen rechtsextremen Hintergrund auf, fasst etwa die Plattform "Stoppt die Rechten" zusammen. Im vergangenen Sommer traten manche Gruppierungen dadurch hervor, gezielt vor "Ausländern" zu warnen. Auch einige der untersuchten Facebook-Bürgerwehren legten laut Selbstbeschreibung ihren Fokus auf "Asylanten" und "Ausländerkriminalität".

Über Sonderrechte verfügen Bürgerwehren im Übrigen nicht. Sie dürfen weder bewaffnet auftreten, noch Rechte der Exekutive für sich in Anspruch nehmen. Sie können, wie jede Zivilperson vom allgemeinen Anhalterecht Gebrauch machen, das es theoretisch erlaubt, jemanden, der gerade eine Straftat begeht auf "verhältnismäßige Weise" bei "unverzüglicher Anzeige" anzuhalten. Beim Ministerium rät man aber aufgrund des Eskalationspotenzials ausdrücklich davon ab, davon Gebrauch zu machen.

"Wer ein Verbrechen beobachte, sollte zum Telefon greifen und die Polizei anrufen", so die Auskunft. "Dazu benötigt es aber keinen Zusammenschluss einer Gruppe". (Georg Pichler, 30.01.2016)