In den Büschen, auf der Straße, hinter dem Bahnhof liegen nicht nur erschöpfte Menschen, sondern auch Plastiksackerln, Spielkarten, Schuhe – Zeugen von der Hast einer Flucht.

Adelheid Wölfl

Hinter den Stacheldrahtrollen auf der griechischen Seite sitzen zwei blonde junge Männer, die sehr ähnliche Lachgrübchen haben. Es sind Brüder. Einer von ihnen hält eine weiße, gestrickte Mütze in Händen mit einer rosa Blüte darauf. Und wer seid ihr? "Wir sind Albaner", sagt er. Habt ihr einen albanischen Pass? "Wenn wir einen albanischen Pass hätten, würden wir hier jetzt nicht hinter dem Stacheldraht sitzen, sondern könnten jetzt über die Grenze nach Albanien gehen. Wir haben einen syrischen Reisepass", erzählt der andere Bruder. "Schuld ist unser Urururgroßvater, der ist vor 100 Jahren von Albanien nach Syrien ausgewandert, weil er dachte, dass das ein besseres Land sei. Aber jetzt sind wir nicht mehr sicher, ob er damit recht hatte", setzt er fort.

Tausende führt der Weg über die Geleise.
Adelheid Wölfl

Die Lachgrübchen in den Gesichtern der beiden werden größer. Auch die umstehenden Syrer lächeln. Schon im 19. Jahrhundert reisten Albaner – vor allem, um Arbeit zu suchen – ins Ausland. Vor hundert Jahren lebten etwa 250.000 bis 300.000 von ihnen in der Türkei. Manche gingen damals auch nach Syrien. Viele nach Damaskus. Nun sind zwei der Nachkommen dieser Auswanderer in Gevgelija gelandet, an der griechisch-mazedonischen Grenze warten sie auf die Weiterreise, eine Rückkehr nach Europa.

Basar auf dem Bahnsteig

"Cigare, cigare", ruft ein Rom, der ein Tischerl aufgestellt hat, um seine Ware zu verkaufen. Auf dem Bahnsteig hat sich ein richtiger Basar entwickelt. Es gibt Bananen, Schokocroissants in Glitzerpapier, Wasser, Cola. Einige brauen sogar türkischen Kaffee. Die steinernen Kästen haben schon lange keine Blumen mehr beherbergt, auf ihnen liegen jetzt Bretter, auf denen sich die Flüchtlinge ausruhen können. Unter einem Metallvordach lagern ein paar Erschöpfte, die Köpfe auf Rucksäcken. Andere Flüchtlinge waschen sich gegenseitig mit einem Wasserschlauch die Haare. Der Schaum fließt auf die Zugschienen. "Taxi, Taxi, 100 Euro bis Tabanovtse", ruft ein Mann. In diesen Tagen würde man ihn vielleicht einen Schlepper nennen.

Zug fünfmal am Tag

Etwa fünfmal am Tag fährt der Zug von hier weg in Richtung serbische Grenze, einmal am Tag direkt nach Belgrad. Doch in diesen internationalen Zug dürfen die Flüchtlinge nicht einsteigen, obwohl eine rasche Reise die Erschöpfung verkürzen würde. Eine Logik hat diese Flüchtlingspolitik nicht. Zwei Buben elektrifizierten sich kürzlich an den Stromleitungen der Eisenbahn, als sie auf die Züge klettern wollten, und wurden schwer verletzt. Hunderte Flüchtlinge hatten versucht, in die Wagons zu klettern. Zwischen einigen – etwa Pakistanis und Afghanen – war es zu Auseinandersetzungen gekommen. Auf dem Bahnhof war das Stresslevel so gestiegen, dass die Polizei vergeblich versuchte, die Flüchtlinge mit Stacheldrahtzaun aufzuhalten und nur gruppenweisen auf den Bahnhof zu lassen.

Immerhin fahren jetzt auch mehr Busse aus Gevgelija nach Tabanovtse im Norden von Mazedonien. Hunderte Flüchtlinge gehen auch an der Autostraße 75 von Thessaloniki in Richtung Gevgelija. Seit sechs Monaten werden es immer mehr. Täglich kommen etwa 2000 Leute an die Grenze.

Von Griechenland sind es etwa zwei Kilometer bis nach Mazedonien. Die Strecke zwischen Gevgelija und Tabanovtse ist Teil der Orientbahn.
Foto: Adelheid Wölfl

Die Strecke zwischen Gevgelija und Tabanovtse ist Teil der Orientbahn, die 1873 gebaut wurde und Istanbul mit Wien verbinden sollte. Der Investor war damals Baron Moritz von Hirsch, der im Jahr 1869 für 99 Jahre die Konzession bekam. Chefingenieur war übrigens Wilhelm Pressel, der zuvor für die österreichische Südbahngesellschaft gearbeitet hatte. "Die hätten sich damals wohl auch nicht gedacht, dass hier einmal so viele Syrer mit ihrer Bahn fahren werden", sagt ein Mazedonier auf dem Bahnhof. Obwohl es bei der Bahn eigentlich genau darum ging: den Nahen Osten mit Mitteleuropa zu verbinden.

Plastiksackerln und Schuhe

Auf den Geleisen, neben ihnen, in den Büschen, auf der Straße, hinter dem Bahnhof liegen Plastiksackerln, Spielkarten, Schuhe, die glitzernden Verpackungen von trockenen Schokoladencroissants. Sie alle sind Zeugen von der Hast einer Flucht, sie sind Hinterlassenschaften von Menschen, die nichts mehr zu verlieren haben. Die Familie aus Kobane etwa.

Foto: Adelheid Wölfl

Die Kinder heben die Finger zum Siegeszeichen, als sie in der Reihe jener stehen, die sich registrieren lassen. Jetzt geht es in die Zukunft. Die Taxifahrer in Gevgelija sitzen vor ihren gelben Mercedes-Wagen und warten, dass sie die Syrer an die serbische Grenze bringen. "Für die ist Europa das Land der Sehnsucht. Früher wollten die Europäer alle nach Amerika, und jetzt wollen diese Leute alle nach Europa", sagt Zoran Petrov, einer der Taxler.

25 von 100 Euro

Früher hat er als Lebensmittelkontrollor gearbeitet. Seit so viele Syrer nach Gevgelija kommen, ist aber auch Petrov Taxifahrer geworden. Er kann allerdings von den 100 Euro nur 25 Euro behalten, den Rest muss er seinem Onkel abgeben, dem der Taxibetrieb gehört. Wenn er die Flüchtlinge hinauf an die Grenze fährt, fragt er sie: "Wie ist eigentlich dieser Bashar al-Assad?" Manche sagen zu ihm, er sei ein böser Herrscher, manche sagen, Assad sei ein guter Herrscher. "Und also weiß ich noch immer nicht, wie Assad eigentlich ist", sagt Petrov.

In den Büschen, auf der Straße, hinter dem Bahnhof liegen nicht nur erschöpfte Menschen, sondern auch Plastiksackerln, Spielkarten, Schuhe – Zeugen von der Hast einer Flucht.
Adelheid Wölfl

Er kennt sich aber mittlerweile in Syrien gut aus, er hat nachgeschaut, wo Aleppo liegt und wie der Euphrat verläuft. Er kennt Geschichten von Leuten, deren Häuser zusammenfielen, er hat die Augen von jenen gesehen, die nur mehr Angst vor dem Tod haben. Die Leute hier in Gevgelija wüssten aber ohnehin, wie es sei, ein Flüchtling zu sein, sagt er. "Hier leben Nachkommen von jenen Mazedoniern, die aus Griechenland vertrieben wurden", erzählt er. Zwischen den beiden Weltkriegen und nach dem griechischen Bürgerkrieg (1946–1949) wurden Slawen aus Griechenland vertrieben oder mussten flüchten. Manche sind in Gevgelija geblieben. (Adelheid Wölfl, 29.8.2015)