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Foto: APA/EPA/Yannis Kolesidis

In den feinen Wellen spiegelt sich das Orange der Sonne. Noch etwas leuchtet dort: Schwimmwesten. Ein Schiff zieht ein graues Schlauchboot an die Mole der Stadt Kos. Die Polizei nimmt Namen auf. Mindestens zehn sind es diesmal. Es ist nicht das erste Gefährt an diesem Morgen um halb sieben.

Am Kai stehen dutzende Männer und beobachten die Szene. Manche haben eine Zahnbürste im Mund. Andere waschen sich im knietiefen Wasser. Sie alle hatten selbst ein Boot bestiegen, um von Bodrum in die Europäische Union zu gelangen. Vier Kilometer sind es nur. Jetzt schlafen sie auf den Straßen der Inselhauptstadt, in Zelten, einem pleitegegangenen Hotel oder sogar einem Zimmer, wenn sie genug Geld haben. Die Türkei ist hier nur noch Kulisse.

Fast 19.000 kamen heuer

Mehr als 160.000 Ankünfte von Flüchtlingen und Migranten hat das UN-Flüchtlingshilfswerk seit Anfang Jänner bis Mitte August in Griechenland gezählt. 18.654 waren es laut UNHCR bis Juli allein in Kos. Die große Mehrheit sind Syrer, gefolgt von Afghanen und Irakern. Geschätzt rund 4000 Männer, Frauen und Kinder halten sich derzeit auf der Insel, genaugenommen in der Hauptstadt, auf. Auf Lesbos sollen sich rund 9000 Flüchtlinge befinden.

Eine junge Frau in sehr kurzer Hose, das Gesicht blass, die High Heels in der Hand, schlurft an den aufs Meer Schauenden vorbei. Die Partynacht war lange. Einige Stunden später wird sich ein Paar aus England hier nicht weiter auf den Kai hinaustrauen. Weil dort "so viele von ihnen" sitzen.

Kontraste koexistieren

Kos braucht die Touristen. Das krisengebeutelte Griechenland ist darauf angewiesen, dass Briten, Deutsche und Holländer trotz der Schlagzeilen über die Flüchtlingsankünfte auf ihren Inseln die Seele baumeln lassen. An den Stränden außerhalb von Kos-Stadt werden sie gar nichts mitbekommen. Aber in dem 19.400-Einwohner-Ort koexistieren die Kontraste derzeit gnadenlos nebeneinander.

Ein kaputtes Flüchtlingsboot in der Brandung, im Hafen laden polierte Ausflugsschiffe Touristen zur Fahrt.
Foto: Springer

Da laden Ausflugsboote namens Odyssey und Friederike mit polierter Reling zu Badetagen oder Shopping in Bodrum – während die sanfte Brandung an einem Stadtstrand ein kaputtes Gummiboot und Schwimmwesten umspült. Da warten dick gepolsterte Liegen auf sonnenhungrige Urlauber, während wenige Meter weiter Menschen auf Pappkartons schlafen. Da bittet ein junger Syrer um Geld für Medizin, während sich gleich ums Eck die Touristen mit Alkohol betäuben.

"Eigene Probleme"

"Griechenland muss seine eigenen Probleme in den Griff bekommen, bevor es anderen helfen kann", meint ein junger Grieche. So argumentiert auch die bisherige für Migrationsfragen zuständige Vizeministerin, Tasia Christodoulopoulou. Die Regierung habe mehr getan, als ihre Kräfte erlaubt hätten. Aufgrund der wirtschaftlichen Schwächen bedauere man, "dass wir nicht die Bedingungen haben, um die Menschen zu beherbergen".

Mohammad (r.) mit Familie. Dahinter das Zelt, in dem fünf Erwachsene und drei Kinder schlafen. "Wir sind erschöpft."
Foto: Springer

Unter einer blauen Nylonplane versucht Mohammad, noch etwas Schlaf zu finden. "Wir sind so erschöpft", hat er am Vortag gesagt. Der 20-Jährige teilt sich das Vier-Mann-Iglu mit vier weiteren Erwachsenen und drei Kindern. Auf die Hibiskushecke daneben hat jemand Kindersocken und Leibchen ausgebreitet. Mohammad hofft, dass es die letzte von sechs Nächten auf Kos war. Am Abend wollen er und seine Verwandten eine Fähre nach Athen besteigen.

Bürokratische Ungleichheit

Alle Syrer, die auf Kos landen, müssen sich hier melden und dann in Athen zur weiteren Anmeldung. Sind ihre Daten gespeichert und die Fingerabdrücke genommen, wird für ein halbes Jahr Aufenthalt gewährt. Die Angehörigen anderer Nationen müssen direkt am Ankunftsort die gesamte Registrierung abwarten. Sie dürfen einen Monat bleiben und können dann Asyl beantragen.

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Täglich warten hunderte Menschen vor der Polizeistation in Kos Stadt darauf, dass ihr Name aufgerufen wird.
Foto: APA/EPA/Yannis Kolesidis

Die meisten wollen weiter – nach Deutschland, Belgien oder Finnland. Kos ist ein Flaschenhals. Die Polizei kommt nicht mit der Arbeit nach. Eine Fähre, die seit einigen Tagen zwischen den Inseln und dem Festland pendelt und Flüchtlinge mitnimmt, soll dem abhelfen. Noch ist davon wenig bemerkbar. Dem Bürgermeister der Insel, Giorgos Kiritsis, werfen Kritiker vor, bewusst zugesehen zu haben. "Wenn ich die Registrierung beschleunigen hätte können, glauben Sie mir, nichts lieber als das", beteuerte er im Spiegel-Gespräch. Er habe Athen um Hilfe gerufen. Vergeblich.

"Warum dauert es so lange?"

"Das ist nicht fair. Ich gebe Geld aus, das ich für die Reise brauche", ärgert sich ein Iraker vor der Polizeistation der Insel. 1100 Dollar habe er Schleppern für die Überfahrt bezahlt. Nun sitze er hier unnötig lange fest. Hunderte finden sich täglich auf dem Platz ein und hoffen, Papiere zu bekommen. Es riecht nach Schweiß.

An einem Polizeiauto lehnt Rita Maan, knielange geblümte Bluse, dunkelrotes Kopftuch. Die Anwältin floh mit ihrem Mann aus dem Irak. "Es ist dort wie in Syrien", sagt die 23-Jährige. Das Paar möchte nach Belgien, zur Schwägerin. Seit sechs Tagen wartet es. "Sie müssen nur die Papiere fertigmachen", sagt Rita Maan. "Ich verstehe nicht, warum es so lange dauert." Zwölf Tage bei den einen, 14 Tage oder drei Wochen bei anderen. Bei den Syrern, so erzählen einige, gehe alles schneller.

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Am Strand von Kos waschen und rasieren sich die Flüchtlinge.
Foto: AP Photo/A. Zemlianichenko

Als Mitte August die Registrierung kurzfristig in ein Stadion verlegt wurde, eskalierte die Lage. Die Polizei soll Blendgranaten und Schlagstöcke eingesetzt haben. Schlagzeilen, die Hoteliers und Restaurantbesitzer nicht brauchen. Ein Hotelangestellter in Kos-Stadt beklagt Stornierungen für September. Sich als Land abzuschotten sei aber auch keine Lösung. "Wenn man zum Nachbarn eine Mauer baut, merkt man irgendwann, dass man in einem Gefängnis ist", sagt er. Bei der griechischen Parlamentswahl im September erwartet er sich viele Protestwähler. Viele, die ganz links wählen – oder ganz rechts.

Gegen deutsche Vorschläge

Krista Kiosoglou beobacht, dass "Europa sein Gesicht verändert".
Foto: Springer

Deutschland und Frankreich fordern nun Aufnahmezentren an den EU-Außengrenzen – unter anderem in Italien und Griechenland – und sagten dafür Hilfe zu. "Angela Merkel weiß immer, was andere tun sollen", bemerkt Yannis, der in seinem Laden in der Altstadt Sonnenhüte und "I love Kos"-Shirts verkauft. "Deshalb mögen die Griechen die EU nicht oder den Euro." Das Geschäft laufe mal so, mal so. Insgesamt gehe es bergab, fasst der 50-Jährige zusammen. Die Flüchtlinge sollten einfach nicht kommen, meint er zum Schluss.

Krista Kiosoglou, Anwältin am Höchstgericht in Athen, beobachtet, dass "Europa sein Gesicht verändert". Auf der einen Seite stehe das Europa Deutschlands, auf der anderen Seite jenes der südeuropäischen Länder, erläutert sie – und zieht an einem Zigarillo.

Hunderte Brote

Der Deutsche Mike Goldhahn (links) hat sich Solidarity for Kos angeschlossen. Freiwillige bereiten hunderte Sandwiches vor.
Foto: Springer

In einer ehemaligen Schule funktioniert die deutsch-griechische Zusammenarbeit bestens. Rund 20 Personen – Studentinnen aus Athen und deutsche Urlauber, darunter Mike Goldhahn, der eine kleine NGO namens Flying Help gegründet hat – zerschneiden an drei Tischen Baguettes, legen abgezählte Schinken-, Käse- und Paradeiserstücke hinein, rollen sie in Folie und schlichten sie in Säcke. Wasser haben sie am Nachmittag verteilt.

Seit drei Monaten versucht Solidarity for Kos, Flüchtlinge mit dem Nötigsten zu versorgen – und gerät immer wieder an seine Grenzen: finanziell, personell, manchmal auch wegen Spannungen unter Migranten. Die Helfer sind auf Spenden von Supermärkten, Bäckern und Privatleuten angewiesen. Wie ein Team von Ärzte ohne Grenzen übernehmen sie Aufgaben, die der Staat nicht erfüllt. Das Spital auf Kos leidet unter Personalmangel.

Zum Captain Elias

Sind die Kofferräume mit rund 800 Sandwiches vollgeladen, fahren die Freiwilligen zu den Zelten am Hafen und "zum Captain".

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In der ehemaligen Lobby des Hotels Captain Elias schlafen Pakistani.
Foto: APA/EPA/Odysseus

Das pleitegegangene Hotel Captain Elias liegt etwas außerhalb der Stadt. Auf drei Etagen wohnen ein paar Hundert Flüchtlinge. Sie alle haben sich nun auf einem Feld vor dem Gebäude in Reihen gestellt und warten auf das Essen. Ali aus Pakistan wird sich, wenn es dunkel wird, in der ehemaligen Hotellobby niederlegen. Strom gibt es keinen. Ein Schlauch ermöglicht notdürftiges Duschen.

Seit 22 Nächten ist Ali hier. 18 Personen schlafen auf sechs fleckigen Matratzen. Er deutet auf einen Riss einer Unterlage, aus dem Schaumstoff quillt. "Wie ein Tier", sagt er. "Nein", erwidert Mike Goldhahn. Er legt ihm die Hand auf die Schulter. "Du bist ein Mensch. Wir alle sind Menschen." (Gudrun Springer, 29.8.2015)