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Ernst Jandl (1925-2000) blieb bis in seine letzten Lebensjahre hinein ein Meister des Gedichtvortrags. Seine Texte handelten vom Öffnen und Schließen des Mundes – und des jeweiligen Buches.

Foto: Picturedesk/Ullstein/Gezett

Wien – Als Ernst Jandls Laut und Luise 1966 in den Walter Drucken erschien, umwitterte den Band sofort Skandalluft. Ganz gewöhnliche Buchstaben gerieten auf Abwege. Ganze Wörter rutschten aus den Satzverbänden heraus. Orts- und Personennamen wurden so lange durcheinandergeschüttelt, bis auch der letzte Laut sein volles Klangvolumen preisgab. "poleeeon / naaaaaaaaaaa / pooleon", heißt es etwa zu Beginn des letzten Drittels der – ohne Titel – exakt 102-zeiligen ode auf N.

Der Urheber dieser verblüffend komischen und entsetzlich scharfen Gedichte war ein bürgerlich aussehender Englischprofessor aus dem Zweiten Wiener Gemeindebezirk. Ernst Jandl (1925- 2000) hatte mit Sprech- und visuellen Gedichten bereits in den 1950ern Furore gemacht. Selbsternannte Bewahrer des Abendlandes boykottierten Jandls Dichtung prompt. Er selbst führte höchst eigenständig fort, was die Vertreter der Wiener Gruppe (Achleitner, Artmann, Bayer, Rühm, Wiener) aus dem Hut der Moderne gezaubert hatten. Jandl entblößte poetisch die Zähne. Den lyrischen Stimmungsmalern der Nachkriegszeit riss er die Sprachbrocken unter der Nase weg.

Der Band Laut und Luise genießt den Status eines unangefochtenen Klassikers. Was aber wäre, wenn das Büchlein ausgerechnet heute, am 90. Geburtstag Jandls, zum ersten Mal erschiene? Es würde, so steht zu befürchten, von niemandem rezensiert. Lyrikbände werden von den Kritikern der überregionalen Presse kaum noch angegriffen. Zu groß scheint das Risiko, sich in den Augen einschlägig Bewanderter zu disqualifizieren. Moderne Gedichte, so heißt es, müssten erst mühsam entziffert werden. Jandl vermeidet genau das, was einer als "dunkel" und "hermetisch" verschrienen Lyrik im Urteil der Allgemeinheit so schlecht zu Gesicht steht.

Sprachfenster auf!

Er reißt die Sprachfenster auf und sorgt für Durchlüftung. Er bricht die Poesie auf deren einfachste Elemente herunter. Jandls Dichtkunst ist demokratisch. Sie zeigt, woraus unsere Annahmen über die Welt zuallererst gemacht sind: aus Sprache. Die entsteht im Mund. Oft stellt sich für den Artikulierenden schon die Barriere der Zähne als unüberwindliches Hindernis heraus: "thechdthen jahr / thüdothdbahnhof / thechdthen jahr / wath tholl / wath tholl / der machen", heißt es dazu in dem herzzerreißenden Adoleszenzgedicht 16 jahr.

Das Achselzucken hört man gleichsam mit. Sage keiner, ein gelernter Anglist wie Jandl hätte nicht auch seine Sehnsüchte gehabt. "ich was not yet / in brasilien / nach brasilien / wulld ich laik du go", lautet die erste Strophe in calypso. Es scheint jedoch, als ob dem sehr lobenswerten landeskundlichen Interesse des lyrischen Ichs doch sehr enge Grenzen gesteckt sind. Die zweite Strophe lässt profanere Interessen erkennen: "wer de wimen / arr so ander / so quait ander / denn anderwo". Die kleine Pointe hält sich zum Ausgang der Strophe gut versteckt. Könnte man den Vers "denn anderwo" nicht auch so lesen, als ob das "denn" – kraft seiner lautlichen Äquivalenz zu "then" – ein Dementi enthielte? Meint Jandl etwa: Wenn es schon nicht nach Brasilien geht (etwa weil das Sprachvermögen mit den Gelüsten nicht Schritt hält), so ließen sich zur Not vielleicht ein paar Frauen "anderwo" finden?

Wohlklang des Herren

Jandls Gedichte haben in den Jahrzehnten nach Laut und Luise ihre Publikumswirksamkeit hinlänglich unter Beweis gestellt. Vorgeblich gläubige Menschen fühlten 1966 das Andenken Christi beschmutzt, bloß weil es Jandl geraten schien, in der Buchausgabe auf den Abdruck seines visuellen Jesus-Gedichts zu bestehen. Neunundzwanzigmal ertönt der Vokal "e" nach dem "j", ehe zwei Bindstriche in der darauffolgenden Zeile eine Barrikade bilden. Erst nach deren Überwindung entlädt sich der ganze Wohlklang, der im Namen des Herren aufgehoben ist: "suss".

Ernst Jandls unschätzbare Verdienste als Dichter, Vortragskünstler und Kulturpolitiker sollten niemanden davon abhal- ten, einen Klassiker wie Laut und Luise immer wieder aufzublättern und neu zu befragen: "schtzngrmm", "wien : heldenplatz". Der 90. Geburtstag des Wortkünstlers bietet dafür die beste Gelegenheit. (Ronald Pohl, 1.8.2015)