In einem hier kürzlich publizierten Beitrag (STANDARD, 16. Juni) setzen sich die beiden Nachwuchswissenschafter Oliver Kühschelm und Florian Wenninger mit den Abwegen der österreichischen Wissenschaftspolitik auseinander. Dabei kritisieren sie insbesondere die neuen Antragsrichtlinien des Wissenschaftsfonds FWF.

Diese Kritik kann ich nicht teilen. In Zeiten knapper Budgets muss man eine objektive Auswahl treffen, und es ist gut, wenn ein erstes Auswahlkriterium der Öffentlichkeit und potenziellen Antragstellern bekanntgegeben wird. Transparenz bei der Verwendung von Steuermitteln finde ich als Steuerzahler wichtig! Zudem sind die vom FWF vorgegebenen Kriterien sehr weich. Verlangt wird, dass Antragsteller in den vergangenen fünf Jahren zwei Publikationen vorgelegt haben müssen, die in internationalen wissenschaftlichen Literaturdatenbanken sichtbar sind. In fünf Jahren kann man es durchaus schaffen, zwei Aufsätze zu schreiben.

Die Aussage, dass Publikationen in englischsprachigen Fachzeitschriften in den einschlägigen Datenbanken bevorzugt werden, ist nicht ganz zutreffend: Sowohl führende österreichische geschichtswissenschaftliche Zeitschriften – wie zum Beispiel die Zeitgeschichte oder die Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft – als auch andere einschlägige Zeitschriften aus dem deutschsprachigen Raum werden erfasst. Ein potenzieller FWF-Antragsteller könnte beispielsweise innerhalb von fünf Jahren einen deutschsprachigen und einen englischsprachigen Aufsatz publizieren und damit die "hohen" Eintrittsbarrieren zu den Fördertöpfen des FWF überwinden.

Was Historiker leisten

Auch in einem zweiten Punkt muss ich Kühschelm und Wenninger widersprechen. Sie behaupten, dass die Geschichtswissenschaft "im Idealfall einen Beitrag zur gesellschaftlichen Selbstreflexion" leistet, während man konkrete Erkenntnisse zur Verbesserung des Lebens der Allgemeinheit nicht erwarten könne. Historiker erfänden nun einmal keine neuen Medikamente oder Maschinen. Letzteres ist wohl in der Tat der Fall. Aber: Die moderne, sozialwissenschaftlich fundierte Wirtschafts- und Sozialgeschichte liefert wertvolle Erkenntnisse, die durchaus das Leben der Allgemeinheit verbessern können.

Um beim Beispiel Medizin zu bleiben: Die Entwicklung neuer Medikamente hängt nicht nur vom naturwissenschaftlich-medizinischen Wissen, sondern auch von den gesellschaftlichen Gegebenheiten ab, zum Beispiel vom Patent- und Arzneimittelrecht oder von der Organisation unternehmerischer Innovationsprozesse. International ist es durchaus üblich, dass Wirtschafts- und Sozialhistoriker untersuchen, wieso bestimmte Gesetze oder Vorschriften erlassen worden sind, wie sie auf der Akteurs- oder Unternehmensebene implementiert wurden und welche Wirkungen sie hatten. Wenn man beispielsweise untersuchen möchte, welche Wirkungen der Stoffschutz für Arzneimittel im Patentrecht hat, dann kann man entweder heute das Gesetz ändern und die Wirkungen beobachten, oder man kann die Geschichte als "Labor" benutzen und überprüfen, was bei historischen Gesetzesänderungen passiert ist.

Neben solchen mikrohistorischen Fragen kann eine moderne empirische Geschichtswissenschaft auch zur Lösung der großen gesellschaftlichen Fragen der Gegenwart einen Beitrag leisten. So hat Thomas Piketty anhand historischer Daten untersucht, ob ein kapitalistisches Wirtschaftssystem zu einer Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen führen muss. Der Ökonom und ehemalige Fed-Präsident Ben Bernanke wiederum begründete seine Entscheidung, das US-Finanzsystem mit Geld zu fluten, mit den Lehren aus der Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre. Die moderne Geschichtswissenschaft dient nicht nur der Selbstreflexion, sondern sie kann, wenn sie theoretisch und methodisch fundiert arbeitet, einen wichtigen Beitrag zur gesellschaftlichen Entwicklung leisten. (Carsten Burhop, 17.6.2015)