Textilien verbinden sich in Nilbar Güres' Arbeiten mit Fragen zur kulturellen, religiösen und geschlechtlichen Identität: Neben Ausstellungen in Wien und Innsbruck war sie jüngst auch auf der Biennale Sao Paulo (Ausstellungsansicht) vertreten.

Foto: Marcos Gorgatti, Galerie Janda, Wien / Rampa Istanbul

Jenseits der Stereotype - auch beim Make-up: Künstlerin Nilbar Güres (geb. 1977 in Istanbul).

Foto: Nilbar Güres

Wien - Die Flucht des Kaktus ist für Nilbar Güres nicht weiter verwunderlich. In freier Natur werde eine solche Kaktee ja viel größer als wir das kennen, sagt die 37-jährige Künstlerin. "Das werden richtige Bäume." Statt gesprengter Ketten ist es eben das Gefängnis eines Blumentopfes, das es zu überwinden gilt. "Er hält es einfach nicht mehr aus."

Nilbar Güres stacheliger Held pikst zwar nicht, weil skulpturale Gestalt und Dornenkleid dank textilen Materials eher zart und weich geraten sind, aber er ist wehrhaft und - wie es die Vertreter seiner Gattung so an sich haben - zäh und anspruchslos.

"Es ist eine Figur ohne Geschlecht", weist Güres, die 1977 in Istanbul geboren wurde und vor nunmehr 14 Jahren nach Wien kam, auf ein nicht unwichtiges Detail der sich im Laufschritt emanzipierenden Pflanze hin: Es ist das Geschlecht, das die individuelle Freiheit von Frauen in patriarchalen, islamischen Gesellschaften einschränkt.

Güres' Werk prägen Fragen zur weiblichen Identität: von der Konstruktion des Geschlechts bis zu den von sozialen Normen und starren Traditionen geprägten Rollenbildern. Ihre, die "private und politische Sphäre" verbindenden Arbeiten in verschiedensten Medien seien "unprätentiös und unideologisch", von "großer Ernsthaftigkeit und zugleich subtilem Humor" , "authentisch und berührend", begründet die Jury, die der Künstlerin nun den zum 34. Mal verliehenen Otto-Mauer-Preis 2014 zuerkannt hat. So ganz geheuer ist Güres der Preis der Erzdiöse Wien, der heute verliehen wird, allerdings nicht. "Ich mag keine monotheistischen Religionen; sie mögen Frauen nicht", sagt sie fast trotzig.

Bittersüß könnte man ihre treffsicheren, von persönlichen Erfahrungen getragenen Arbeiten auch bezeichnen. In Living Room (2010), einem Bild aus der Çirçir-Fotoserie, einem Viertel im Istanbuler Stadtteil Sariyer, sieht man vier Frauen unter dem Bild des Familienpatrons sitzen: Tief hinabgesunken in die weichen, lähmenden Polster des Heims, in dem nur die Söhne zählen, ist ihr Gesicht unter einem Tuch verborgen. Es ist ein weißes Textil, das an die Laken erinnert, mit denen man Mobiliar verhängt, um es vor Staub zu schützen. Wenn man so will, ist es aber auch ein "unbeschriebenes" Stück Stoff. Diese sind in Güres' Arbeiten immer sorgsam gewählt: Farbe und Muster von Kleidungsstücken verraten der Künstlerin viel über die Persönlichkeit. Wenn Güres als Performerin im Video Undressing (2006), einer ihrer bekanntesten Arbeiten, eine Schleierschicht nach der anderen von ihrem Kopf löst, nennt sie zu jedem Textil auch den Namen einer Frau ihrer Familie.

Auch das Haus in Çirçir in das ihre Tante als "Braut" einzog, ist Inspiration vieler Arbeiten. Den Titel "Braut" verliere man in der eingeheirateten Familie nicht, er weise die Frauen für Putzen, Kochen, Kinderkriegen aus, so Güres. Ihr "Hennenabend" The Gathering versieht die Junggesellinnenparty recht eindeutig mit dem Symbol eines Opferlämmchens.

Ein anderes inszeniertes Bild zeigt Frauen mit Schaufel und Spitzhacke auf der Suche nach den Opfern häuslicher Gewalt: Am Tag des Shootings erfuhr die Künstlerin, dass hier tatsächlich die zweite Ehegattin eines mutmaßlichen Frauenmörders wohnt.

In derselben Kulisse, der Baustelle zur dritten Bosporus-Brücke, erzählt Güres in ihrer collagierenden, träumerisch-surrealen Sprache (sie bewundert Magritte) von lesbischer Liebe - und letztlich auch von Gentrifizierung. Denn dem Brückenbau fiel das ganze Grätzel zum Opfer. Und hunderte Bäume. (Anne Katrin Feßler, DER STANDARD, 9.12.2014)