Mit ihrem Kommentar "Jenseits des Anstandsgürtels" zum Thema der Qualität des Meinungsaustausches in Internet-Foren, konkret auf derStandard.at, hat Julya Rabinowich offenbar in ein Wespennest gestochen. Neben einigen sachlichen Reaktionen ergoss sich über die Autorin unverzüglich eine verdächtig hohe Flut von, gelinde gesagt, vorwiegend kritischen Postings seitens der Online-Community (deren weniger diffamierende, rationellere ganzseitig in die gedruckte STANDARD-Version Eingang fanden).

In Zeiten wie diesen erscheint es nur logisch, dass auch solche Foren als Tummelplätze der ansonsten frustrierten Meinungsäußerung einflussloser Bürger der Marktideologie mit ihren auf alle Lebensbereiche ausschweifenden Geschäftszweigen unterliegen. Folglich ist Erregung mit ihrem Rattenschwanz an Pro- und Contra-Erregungen vermutlich eine willkommene Belebung des Geschäfts, insbesondere im medialen Sommerloch.

Kern der Diskussion

Doch was wollte die nun teilweise auch untergriffig angegriffene Autorin eigentlich mit ihrem nuancierten, durchaus ehrlichen und auch selbstkritischen Kommentar eigentlich sagen und anstoßen? Abgesehen von ihrem zumindest für mich nachvollziehbaren Abscheu vor der Bösartigkeit mancher Postings und vor den daraus buchstäblich ablesbaren gesellschaftlichen Defekten geht es ihr unmissverständlich und erklärtermaßen um die Anstoßung einer Diskussion: über die Grenzen, die aus demokratie- und menschenrechtlicher Hinsicht in solchen Foren gelten und von den Managern beachtet beziehungsweise durchgesetzt werden sollten.

Es geht ihr um das "Gewissen der Worte", das  Meinungsäußerungen leiten sollte, selbst wenn sie nicht gleich strafrechtlich relevant sind. Ihr Vorschlag, gewissen Usern das Wort zu entziehen oder dem "Problem" mittels Abschaffung der Anonymität Herr zu werden, ist letztlich ein durchaus diskussionswürdiger Nebenschauplatz der von ihr angerissenen Grundsatzdebatte.

Es geht nicht um Frau Rabinowich

Was bei diesem sommerlichen Sturm im Wasserglas beziehungsweise Rauschen im virtuellen Raum zu denken gibt, ist, was Lehrer zu meinen Schulzeiten als Thema-Verfehlung zu bezeichnen pflegten: Es geht nicht darum, ob und was Frau Rabinowich unter welchen Nicknames zu diesem oder jenem Thema gepostet hat, oder um ihre Befindlichkeit oder ihren Charakter, oder überhaupt um sie. Die ihrem Denkanstoß folgenden An- beziehungsweise Untergriffe gegen sie als Person lassen ihr eigentliches und wichtiges Anliegen weitgehend außer Acht.

Sachliche Diskussion

Ablenkung von Sach- auf Personenfragen ist uns hierzulande allzu vertraut. Tanzt jemand aus der Reihe - in Politik, Academia oder Geschäftsleben - gilt die erste Frage oder Spekulation von Sympathisanten und Gegnern nicht allfälligen sachlich-fachlichen Gründen, sondern persönlichen oder parteipolitischen Motiven solcher Abweicherei. Gefragt wird nicht: Hat er/sie Recht oder Unrecht? Gefragt wird vielmehr: Warum sagt er/sie das? Was bezweckt er/sie, wem dient er/sie? Und, sofern es unbequeme Fragen sind: Was könnte man ihm/ihr als Person vorwerfen/unterstellen?

Mit seinen Enthüllungen über das Treiben von Geheimdiensten wollte Edward Snowden eine Debatte darüber anstoßen, wo aus demokratie-hygienischer Sicht die Grenzen des totalen Überwachungsstaates zu ziehen wären. Der Großteil der Medien beschäftigt sich indessen aber mit der Frage nach dem Verbleib und der Zukunft dieses Whistleblowers (Verpfeifers).

Es geht um fundamentale Fragen, die Rabinowich aufwirft. Österreich würde als selbst ernannte "Kulturnation" der Glaubwürdigkeit dieses Anspruchs einen großen Schritt näher kommen, setzte sich die Übung durch, hinter Kritik nicht in erster Linie persönliche (oder parteipolitische) Motive zu argwöhnen und den oder die KritikerIn in den Mittelpunkt der Betrachtungen zu rücken. Und das gilt auch für die freien Geister, die sich im Internet ausbreiten. (Leserkommentar, Gabriele Matzner, derStandard.at, 29.7.2013)