Der Rausschmiss von Peter Löscher als Siemens-Chef war keine völlige Überraschung. Schon eine Zeitlang wurde in Industriekreisen gemunkelt, dass der 2007 eingesetzte ehemalige Pharma-Manager der ideale Mann war, um die Korruptionsaffären im Konzern zu bereinigen, aber dass ihm die strategische Vision und die Durchschlagskraft fehlen, um Siemens wieder auf eine klare Erfolgsstraße zu führen.

Dazu kam sein Geburtsfehler: Der Kärntner war der erste Vorstandsvorsitzende, der von außen kam. Solange er benötigt wurde, um Glaubwürdigkeit im Kampf gegen Korruption zu verbreiten, wurde er respektiert. Doch sobald diese Krise beigelegt war, gab es zu viele interne Rivalen, die Löscher das richtige Verständnis für das Siemens-Geschäft in Abrede stellen – darunter auch sein wahrscheinlicher Nachfolger, Finanzvorstand Joe Kaeser.

Aber Kaeser hat eine Mammutaufgabe vor sich. Denn die jüngsten Probleme bei Siemens, die Löscher nun zum Verhängnis wurden – die verfehlten Gewinnziele, die Verluste bei Offshore-Windkraftwerken, der mühsame Börsengang des Leuchtmittelherstellers Osram – hatten weniger mit spezifischen Managementfehlern der Siemens-Spitze zu tun und viel mehr mit den grundlegenden Strukturen des 166 Jahre alten Unternehmens.

Siemens stammt aus dem 19. Jahrhundert und ist aufgebaut wie ein Konzern des 20. Jahrhunderts. Trotz der massiven Umschichtungen unter Löscher bleibt das Unternehmen ein technologischer Gemischtwarenhandel. Energie, Infrastruktur, Verkehr, Medizin – so richtig passen diese Bereiche heute nicht zusammen. In so vielen Märkten ist Siemens dabei, aber mit Ausnahme der Medizintechnik ist es nirgendwo wirklich Weltspitze. Überall tun sich kleinere, spezialisierte Anbieter leichter.

Siemens als Marke steht für deutsche Verlässlichkeit und die Fähigkeit zur Perfektionierung. Aber Flexibilität und Innovationskraft wird mit dem Moloch aus München nur selten verbunden.

Management-Experten zweifeln schon seit Jahrzehnten am Sinn solcher integrierter Großkonzerne. Auch wenn Koreaner wie Samsung scheinbar das Gegenteil demonstrieren – die Größe steht oft der Wettbewerbsfähigkeit im Wege. In spezialisierten Gesellschaften müssen die Chefs nicht ständig auf vielen verschiedenen Hochzeiten tanzen. Sie können Strategien entwickeln statt dauernd unterschiedliche Brände löschen.

Das oft strapazierte Zauberwort in diversifizierten Unternehmen wie Siemens heißt Synergien. Aber welche Synergien können die verschiedenen Siemens-Geschäfsfelder miteinander wirklich entwickeln? Zwei Möglichkeiten stechen hervor: eine starke konzerninterne Forschung und Entwicklung, und die guten Beziehungen zu öffentlichen Auftraggebern, die bereichsübergreifend funktionieren kann.

Bei der Forschung ist Siemens in vielen Bereichen führend. Aber dafür benötigt man heute keine integrierten Konzerne. Technologische Weiterentwicklung geschieht immer öfter im Netzwerk mit Universitäten und öffentlichen Forschungsstätten, wo auch kleinere Unternehmen mitnaschen können.

Und die Nähe zum Staat in so vielen Teilen der Welt ist der Boden, auf dem die Korruptionsaffären geblüht sind, die Siemens so zu schaffen haben machen. Löschers Aufräumarbeiten haben hier zu einer neuen Kultur der Compliance geführt, die Siemens’ Fähigkeiten zum Lobbying einschränken. Selbst bei den Wiener Straßenbahnen droht dem Platzhirsch Konkurrenz von Bombardier – unvorstellbar in früheren Jahren.

Gerade Siemens Österreich wird sich zunehmend schwer tun, wenn Auftragsvergaben weniger auf Basis bestehender Beziehungen und mehr auf Grundlage von Bestbieterkriterien ablaufen.

Siemens wird sich in den kommenden Jahren grundlegend wandeln müssen. Der neue Chef wird auch das bisher Unvorstellbare andenken müssen – den Konzern von sich aus in verschiedene Bereiche aufteilen, die dann einzeln an die Börse gehen. Nach Osram ist vor allem der florierende Medizinsektor ein Kandidat für ein solches Spin-Off.

Und das restliche Unternehmen wird sich noch stärker fokussieren und manche Felder überhaupt verlassen müssen. Nach Telekom, Computern und Solarenergie gibt es immer noch vieles, was Siemens einfach nicht gut genug kann  - und wo die Konkurrenz nach und nach Marktanteile erobern wird.

Ob Kaeser das schafft, bleibt dahin gestellt. Aber als Siemensianer hat er etwas mehr Spielraum als der Außenseiter Löscher.

Hier geht es nicht nur um die Interessen der Siemens-Aktionäre, die nach höheren Renditen hungern. Auch die 370.000 Mitarbeiter brauchen eine klarere Strategie, damit ihre Arbeitsplätze gesichert werden.

Und auch für den Wirtschaftsstandort Deutschland steht viel auf dem Spiel. Ein langsamer Niedergang des Riesen Siemens wäre auch ein schwerer Schlag für all die Qualitäten, die Deutschland heute wirtschaftlich so erfolgreich machen. (Eric Frey, derStandard.at, 28.7.2013)