Die Debatte über die Qualität von Abschlussarbeiten und den Einfluss unwissenschaftlicher esoterischer Sichtweisen in der Wiener Kultur- und Sozialanthropologie (KSA) wäre selbst ein interessanter sozial- und kulturanthropologischer Forschungsgegenstand. Immerhin zeigt sie wesentlich mehr von der hierzulande vorhandenen Debatten(un)kultur auf als von den tatsächlichen Verhältnissen, unter denen Forschung und Lehre an der Universität Wien - und nicht nur an der KSA - stattfindet.

Kritik und Kritikabwehr

Eine völlig fachfremde Medizinjournalistin ohne Ahnung von universitären Strukturen entdeckt einige - gelinde gesagt - mehr als nur fragwürdige wissenschaftliche Abschlussarbeiten. Sie wagt es aber entweder erst einige Monate nach dem Tod des betreuenden Professors dieser Arbeiten mit einem wutentbrannten Manifest auf derStandard.at, die gesamte Wiener Kultur- und Sozialanthropologie zu attackieren, oder wurde tatsächlich - wie ihr Vereinspräsident Ulrich Berger schreibt - "erst im Frühjahr 2013 durch Insider auf das ganze Ausmaß der untragbaren Zustände aufmerksam gemacht".

Jene, die die Medizinjournalistin also darauf aufmerksam gemacht hätten, hätten demnach bis heute nicht den Mut gehabt, sich zu Wort zu melden. Die an der KSA geübte Kritik interessiert sich nicht im Entferntesten für die strukturellen und vor allem personellen Rahmenbedingungen, unter denen diese Missstände möglich waren.

Im Duktus eher als Inquisition denn als Kritik gehalten und noch dazu gegen einen sehr beliebten Professor gerichtet, der sich vom Grab heraus nicht mehr wehren kann, macht es die Autorin, die einer verbissen scientistischen Gruppierung angehört, der Institutsleitung damit leicht, diese Kritik abzuschmettern, auf die eigenen Leistungen zu verweisen und sich nicht mehr näher damit auseinandersetzen zu müssen.

Es genügt nicht, wenn Bernhard Hadolt, Wolfgang Kraus, Elke Mader und Gertraud Seiser den "Ultra-Rationalismus" und den "selbstgerechten Positivismus" der Autorin und ihrer Organisation angreifen, um damit wieder zur Tagesordnung überzugehen. Was bleibt, ist eine diffuse Rufschädigung der Universität Wien und ein Weitermachen wie bisher.

Dabei zeigt ein Blick in die von Krista Federspiel kritisierten Diplomarbeiten und Dissertationen, dass einige davon tatsächlich so gravierende Mängel aufweisen, dass es wirklich nur als schwerer Fehler betrachtet werden kann, diese anzunehmen. In diesem Zusammenhang geht es nicht nur um die von Federspiel verortete Esoterik, sondern vielfach auch um die wissenschaftliche Qualität der Arbeiten. Und dieses Problem betrifft keineswegs nur die Kultur- und Sozialanthropologie.

Strukturelle Fehlentwicklungen

Um die Gründe für solche Fehlentwicklungen analysieren zu können, wäre allerdings mehr kritische Analyse und weniger inquisitorischer Furor notwendig. Tatsächlich sind in mehreren sogenannten Massenfächern in den vergangenen Jahren Diplomarbeiten angenommen und positiv beurteilt worden, die eigentlich nicht den international üblichen wissenschaftlichen Standards genügen.

Die Gründe dafür liegen allerdings nicht primär in individuellem Versagen von Lehrenden, sondern in strukturellen Problemen. Seit Jahren sind Fächer wie die Kultur- und Sozialanthropologie, die Soziologie, die Politikwissenschaft und die Publizistik personell massiv unterbesetzt. Lehrende müssen wesentlich mehr Studierende betreuen als früher.

In meiner Studienzeit waren wir in prüfungsimmanenten Lehrveranstaltungen, also zum Beispiel in Seminaren, zehn bis zwanzig Studierende. Heute gibt es in diesen Fächern fast keine Seminare unter fünfzig Studierenden mehr. In diesen auch an den Universitäten als Massenfächer bekannten Instituten lehren ProfessorInnen, die angesichts des Sparzwangs im Bildungsbereich gleichzeitig vierzig Diplomarbeiten und zwanzig Dissertationen betreuen müssen. In einer Vierzigstundenwoche ist solch eine Arbeitsleistung nicht machbar.

An vielen Instituten - auch an der Kultur- und Sozialanthropologie - werden Diplomarbeitsbetreuungen auch an habilitierte (oder auch nicht habilitierte) LektorInnen ausgelagert, also jene Lehrenden, die ausschließlich für die von ihnen gehaltenen Lehrveranstaltungen bezahlt werden und in den allermeisten Fällen nur über Semesterverträge verfügen. Für eine Diplomarbeitsbetreuung inklusive Diplomprüfung erhalten diese LektorInnen 100 Euro (!) von der Universität Wien. Selbst wenn die Diplomarbeit nur gelesen wird, würde man damit auf einen Stundenlohn kommen, der weit unter dem jeder unqualifizierten Tätigkeit liegt, geschweige denn, wenn man das Entstehen einer solchen Diplomarbeit wirklich betreut.

Gerade auf der KSA hatten die LektorInnen übrigens versucht, um bessere Regelungen für die Diplomarbeitsbetreuungen zu kämpfen - mit sehr mäßigem Erfolg.

Diese ohnehin schon prekäre Situation spitzte sich letztes und vorletztes Jahr noch weiter zu, als in den Massenfächern die alten Diplomstudien ausliefen und plötzlich hunderte von ehemaligen Karteileichen doch noch ihren Magister machen wollten. Keines der Institute war auf diesen Ansturm ausgelegt. An einigen Instituten mussten selbst einige LektorInnen im Halbstundentakt prüfen. Es ist ein offenes Geheimnis, dass viele der Arbeiten, die in dieser Phase abgeschlossen wurden, von ihren Erst- und ZweitbetreuerInnen gar nicht gelesen werden konnten. Dass damit auch Arbeiten durchrutschten, die niemals positiv benotet hätten werden dürfen, ist zwar skandalös, aber weniger die Schuld völlig überlasteter Lehrender als die katastrophale Folge der strukturellen Probleme an österreichischen Universitäten.

Viele der von Krista Federspiel zu Recht kritisierten Arbeiten sind in dieser Phase entstanden. Dass von Esoterik begeisterte Studierende - derer es auf der KSA nicht wenige gibt - ausgerechnet bei Manfred Kremser gelandet sind, ist zwar kein Zufall, schließlich arbeitete er jahrelang zu religionsethnologischen Themen und ließ dabei oft viel zu wenig Distanz zu seinem Forschungsgegenstand erkennen, allerdings ist es in diesem Fall besonders tragisch, da dessen schwere Erkrankung auch noch genau mit dem Zeitraum zusammenfiel, als die alten Diplomstudien ausliefen.

Esoterik an der KSA

Ein kritischer Blick auf diese Entwicklung erklärt zwar einiges, entschuldigt aber nicht alles. Die Reaktion der Institutsleitung war - im Gegensatz  zu jener von Igor Eberhard ("Das Goldene Brett für pseudokritisches Denken", derStandard.at, 25. Juni) - im Wesentlichen eine Kritikabwehr, die keinerlei Bereitschaft signalisierte, jenen Teilen von Federspiels Kritik, die durchaus berechtigt waren, nachzugehen. Diese Kritikabwehr wurde leider durch den Duktus Federspiels erleichtert. Viele, die Manfred Kremser als menschliche Ausnahmeerscheinung und guten Erzähler kannten (was ihn für Schamanismus- und Esoterik-Begeisterte wahrscheinlich zusätzlich attraktiv machte) haben sich dadurch verständlicherweise zu einer reflexartigen Abwehr der Kritik hinreißen lassen.

Den Sozialwissenschaften im Allgemeinen und der KSA im Besonderen tut diese Kritikabwehr allerdings nicht gut. Denn das Problem der Esoterikaffinität mancher Studierender und einiger weniger Lehrender ist tatsächlich ein reales. Dabei ist die Abgrenzung zwischen Wissenschaft und Religion/Esoterik leider nicht so klar und eindeutig, wie Federspiel und ihre "Gesellschaft für kritisches Denken" (GKD) dies gerne hätten.

Esoterik und religiöse Vorstellungen haben selbstverständlich nichts als Methode in der Wissenschaft verloren. Als Gegenstand der Forschung sind sie aber in einem Fach wie der KSA völlig legitim. Insofern kann man sich grundsätzlich genauso mit Alpinesoterikern beschäftigen wie mit Schamanismus. Die Frage ist nur, wie dies getan wird, nämlich aus einer sozial- und kulturwissenschaftlichen Perspektive oder aus der Perspektive eines Gläubigen. Und hier gibt es tatsächlich ein Problem, auch - aber nicht nur - unter einigen ehemaligen Studierenden Manfred Kremsers.

Jedoch ist diese Trennung von Wissenschaft und Religion/Esoterik nicht so sauber und eindeutig, wie sich dies viele von uns materialistisch denkenden Wissenschaftlern wünschen würden. Immerhin gibt es seit Beginn der europäischen Universitäten theologische Fakultäten, die aus einem Glaubenssystem heraus argumentieren, und sogar viele Naturwissenschaftler, die historisch auch mit Theorien operierten, die wir heute in den Bereich der Alchemie und nicht der Chemie, der Astrologie und nicht der Astronomie einordnen würden. Und viele Theorien neoliberaler Wirtschaftswissenschaftler erscheinen auch nicht weniger esoterisch als manche Formen des Schamanismus.

Grundsätzlich sehe ich nicht den großen Unterschied zwischen einer Dissertation über die unbefleckte Empfängnis Marias auf einer katholisch-theologischen Fakultät und der Beschäftigung eines Esoterikers mit dem Zustand irgendeines "reifen Wassers". Für mich persönlich ist ein "reifes Wasser" sogar wahrscheinlicher als eine "unbefleckte Empfängnis". Der große Unterschied ist wohl, dass eine Arbeit auf einer theologischen Fakultät explizit als religiöses Wissen verhandelt wird, also auch als solches erkannt und eingeordnet werden kann, esoterische Arbeiten an der KSA aber so tun, als handle es sich um sozial- und kulturwissenschaftliche Forschungen. Und hier gäbe es tatsächlich Bedarf, sich mit manchen Arbeiten kritisch auseinanderzusetzen.

Die Universität Wien müsste jedoch auch Rahmenbedingungen schaffen, in denen eine solche Auseinandersetzung stattfinden kann, und dafür Sorge tragen, dass die Arbeitsbedingungen in den Massenfächern so gestaltet sind, dass Diplomarbeiten und Dissertationen auch ernsthaft betreut werden können. (Thomas Schmidinger, derStandard.at, 2.7.2013)