Bergmann: Ist der Vorschlag wirklich so "verrückt"?

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ORF-Aufsicht unter Parteiaufsicht: Nur vier von 35 Sitzen im Stiftungsrat sind parteiunabhängig besetzt. Wie soll unter diesen Bedingungen je eine Reform des Unternehmens auf den Weg kommen? 
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Verrückt", sagte der Mann in der U3 laut, als er den im Standard publizierten Kommentar von Armin Wolf mit dem Titel "ORF-Reform: Lasst das Los entscheiden" (4. 5.) seiner Frau hinüberreichte. "Dreht der jetzt auch noch durch?", war ihre spontane Reaktion. Ganz wie die eines gelehrten Freundes, der mir auf die Bitte um eine fachlich, sachliche Stellungnahme, knapp und schroff mailte: "Habe den Artikel gelesen und den Kommentar von Gerfried Sperl (6. 5.) Ich halte nichts davon, einen solchen Unsinn auch nur zu behandeln".

Bei den Jesuiten (Kollegium Kalksburg) habe ich allerdings gelernt: Nichts ist ganz richtig und nichts ist ganz falsch: Wenn du einen Vorschlag hörst, dann denke nicht gleich darüber nach, was daran falsch ist, sondern analysiere vorurteilslos, was daran richtig ist oder zumindest sein könnte. Mit einem Wort, schau einfach, ob du etwas davon brauchen kannst.

  • Richtig ist, dass nach einer Karmasin-Studie aus dem Vorjahr, 75% der Österreicherinnen und Österreicher der Meinung sind, der ORF gehöre den Regierungsparteien (61% SPÖ, 14% ÖVP).
  • Richtig ist, dass von den 35 Stiftungsräten des ORF nur vier als parteiunabhängig gelten: 15 gehören deklariert dem "Freundeskreis" (Fraktion!) der SPÖ an, zwölf dem der ÖVP, zwei der FPÖ und je einer den Grünen bzw. dem BZÖ.
  • Richtig ist daher auch, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Österreich dringendst reformiert und aus der politischen Abhängigkeit (und sei es auch nur der gefühlten) befreit werden muss.
  • Richtig ist, dass sowohl Bundeskanzler Werner Faymann, ("die Österreicher wollen in erster Linie einen unabhängigen ORF") als auch Vizekanzler Michael Spindelegger, im April vorigen Jahres den Startschuss für eine "gewaltige Reform" gegeben haben.
  • Richtig ist schließlich, dass in der "Arbeitsgruppe ORF-Reform" bei Staatssekretär Josef Ostermayer, der die Mediensprecher der Parlamentsparteien angehören, mehrmals konkrete Vorschläge eingehend diskutiert wurden.

Seit ein paar Wochen aber steht die Partie. Von "nicht mehr vor den Wahlen", ist da auf einmal die Rede. Warum eigentlich?

Ganz einfach: Weil es für die Parteien nicht so leicht ist, in eigener Sache (zum Beispiel: Wahlrecht, Politikergehälter, Parteienfinanzierung) sachgerecht zu entscheiden. Armin Wolf zeigt in seinem Artikel auf, dass die Parteien in der Frage ORF in einem starken inneren Konflikt sind: Sie sollen ein Gremium schaffen, das ihren Einfluss auf den unabhängigen Rundfunk möglichst begrenzt, während sie jedes Interesse an möglichst großen Einfluss auf eben diesen haben". Ein Psychologe sagte dieser Tage: Das wäre fast so, wie wenn die Bären beschlössen, künftig keinen Honig mehr zu rauben, oder Hunde an einer vor ihnen liegenden Knackwurst ganz einfach vorbeilaufen müssten.

Den Parteien geht es bei der längst fälligen ORF-Erneuerung letztendlich um die Beantwortung von zwei Fragen: Wer wählt die Stiftungsräte aus? Und, wer bestellt sie?

Bisher liegen drei Vorschläge auf dem Tisch der "Arbeitsgruppe ORF-Reform", die eines gemeinsam haben: Nicht die Bundesregierung! Sondern: a.) der Bundespräsident, b.) der Hauptausschuss des Nationalrates, oder c.) eine eigene "Findungskommission", die vom Bundespräsidenten oder vom Hauptausschuss des Nationalrates eingesetzt wird.

Da die Parteiapparate aber befürchten, dass bei der Verwirklichung eines dieser Modelle der eine den anderen austricksen könnte, findet keines eine Mehrheit. Weitgehend einig ist man sich nur über die Notwendigkeit den Stiftungsrat von 35 auf 15 zu verkleinern: fünf Betriebsräte (Aktienrecht) und zehn Experten, die sich in den Bereichen Medien und Wirtschaft einen Namen gemacht haben.

In dieser Pattsituation sollte das von Armin Wolf ins Gespräch gebrachte Modell einer "Bürgerversammlung" (Citizen Assemblies) des deutschen Politologen Hubertus Buchstein ernsthaft "durchgespielt" werden. Dieses besagt, dass ein "Gremium, das sich aus 100 bis 200 ausgelosten Bürgerinnen und Bürgern zusammensetzt", zur Lösung eines öffentlichen Problems einen Entscheidungsvorschlag erarbeiten soll.

Auf den ORF angewendet könnte dies heißen: Aus der Wählerevidenz werden etwa 150 bis 200 Personen ausgelost, die folgende Aufgaben erfüllen müssen:

Erster Schritt: Erarbeitung eines Vorschlags für eine neue Struktur der Organe Stiftungsrat und Publikumsrat sowie die Entwicklung von Anforderungsprofilen für deren Mitglieder.

Zweiter Schritt: Beschlussfassung der neuen Rahmenbedingungen durch das Parlament auf der Basis dieser Vorschläge.

Dritter Schritt: Öffentliche Ausschreibung und öffentlich begründete Nominierung der zehn Mitglieder des Stiftungsrates durch die Bürgerversammlung.

Vierter Schritt: Angelobung durch den Bundespräsidenten, der im Einzelfall von einem Vetorecht Gebrauch machen kann.

Danach wird die Bürgerversammlung wieder aufgelöst. Die Amtszeit der Gremien beträgt fünf Jahre. Die Mitglieder sind nicht absetzbar. Bei Ausscheiden eines Mitgliedes erneuert sich das Gremium selbst. Nach fünf Jahren wird alles neu gestartet.

Ist das wirklich so "verrückt", wie der Mann in der U Bahn meinte, oder so ein "Unsinn", wie mein Freund mailte? "Verrückt" bedeutet doch auch, dass etwas von einer Stelle zu einer anderen verlagert wird. Konkret bedeutet dies: Auslagerung ("verrücken") eines Teils des Entscheidungsprozesses bei der Besetzung des ORF-Stiftungsrates an Menschen, die eines gemeinsam haben, sie sind nicht von Parteien entsandt worden und können von Parteisekretariaten nicht gegängelt werden.

150 bis 200 mündige Bürgerinnen und Bürger schauen auf jeden Fall mehr fern, hören mit Sicherheit mehr Radio und haben mit Sicherheit mehr Interesse an guten Programmen als die 183 Abgeordneten zum Nationalrat und die 20 Minister und Staatssekretäre der Bundesregierung (Zeitmangel! ), die über ein neues Rundfunkgesetz entscheiden müssten. Sie verstehen mehr vom Programm und von den Bedürfnissen der Zuschauer und der Radiohörer. Ihr Interesse gilt der Attraktivität der Sendungen und der Objektivität der Information. Ihnen geht es um die Qualität der Geschäftsführung und der Programmmacher und nicht um deren Zugehörigkeit zu einer Partei. Das hat doch was.

Vielleicht sollte Staatssekretär Ostermayer so ein Modell in der " Arbeitsgruppe ORF-Reform" den Mediensprechern der Parteien zur Diskussion stellen. Denn: Bei einigem guten Willen wäre es ganz leicht möglich, einen solchen, zugegeben ganz neuen Prozess noch vor den Wahlen im Herbst in Gang zu setzen. (Kurt Bergmann, DER STANDARD, 15.5.2013)