In unsicheren Zeiten haben Propheten Hochkonjunktur. Wenn keiner weiß, was los ist oder wie es weitergeht, blüht die Prognose-Industrie auf. Nicht nur das. Untergangsszenarien machen die Runde. Der Boden ist fruchtbar für Unken aller Art, wenn Angst, Schrecken und/oder Ungewissheit in einer dunklen Wolke über den Köpfen aller schweben. Doch sind Prognosen mehr als nur ein Blick in die Glaskugel? Mehr als Kaffeesudlesen für Fortgeschrittene mit mathematischen Formeln im Hintergrund?

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Mit endgültiger Sicherheit sind diese Fragen nicht zu beantworten. Es gehört zum "Geschäft", in die Zukunft zu blicken. Darauf ist letztlich die gesamte Finanzindustrie aufgebaut – mehr oder weniger wettet da jeder darauf, dass ein bestimmtes Ereignis eintritt oder nicht, dass eine bestimmte Zielgröße überschritten wird oder nicht, dass ein Unternehmen Gewinn macht oder nicht. Nichts anderes passiert in der großen weiten Welt der Finanzmärkte. Spekulation nennt sich das dann, und die hat spätestens seit vier, fünf Jahren auch einen schalen Beigeschmack. Denn wenn einer beim Spekulieren Geld verdient, dann verliert es irgendwo ein anderer.

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Es verwundert wenig, dass das Prognosegeschäft rennt wie geschmiert. Im Moment heizt uns die Debatte rund um einen möglichen massiven Eingriff der Europäischen Zentralbank in den Anleihenmarkt ein. Was das genau bedeuten würde, wissen selbst die Experten zumeist nur in der Theorie. Ob sich in der Praxis Länder wie Spanien und Italien langfristig wirklich erholen würden, wenn die EZB deren Anleihen kauft, kann nur die Zukunft weisen. Ob ein Austritt Griechenlands aus der Eurozone gleichzeitig deren Implosion bedeutet? Auch das kann niemand mit endgültiger Gewissheit voraussagen. Einigkeit herrscht auch keine, wenn die Frage aufkommt, ob die Eurozone diese Krise überleben wird.

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Finanzmarkt heißt leben mit der Erwartung. Arbeiten und vor allem Geld verdienen mit dem Ausmalen von Szenarien. Wenn uns die Krise, ausgehend von der Immobilienkrise in den USA 2007ff. und dem Crash der Investmentbank Lehman Brothers im Herbst 2008, auch nur eines gelehrt hat, dann, dass Unvorhergesehenes nun einmal eintritt. Die große Unbekannte, das "Restrisiko", wie es gerne heißt, ist in Erscheinung getreten, ist nach dem Rubbeln an der Flasche als Geist aus derselben entwichen. Damit war mit einem Schlag eine Grundfeste des wirtschaftlichen Denkens dahin: Das Unwahrscheinliche tritt ein. Nicht immer. Nicht voraussagbar. Aber doch oft genug, um das ganze Kartenhaus ordentlich ins Wanken zu bringen.

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Wie geht es nun also weiter, nach vier Jahren Dauerkrise, die in Wellen einmal härter und einmal sanfter an die Küste Eurolands klatscht? Was kommt in den nächsten Wochen und Monaten auf Europa, auf die Eurozone, die Finanzmärkte, die Bevölkerung zu? Die einzig ehrliche Antwort ist: Wir wissen es nicht. Wahrscheinlich ist sogar, dass es niemand weiß. Nicht die Politik, nicht die Finanzmärkte, nicht die Medien. Prognosen werden weiterhin erstellt, sie scheitern aber auch weiterhin daran, dass es letztlich doch anders kommt, als man denkt. (Daniela Rom, derStandard.at, 1.8.2012)