Die jüdische Universitätsprofessorin, Philosophin und Schriftstellerin Hannah Arendt (1906-1975), die vom Naziregime ausgebürgert worden war, vertrat das radikale Konzept der Pluralität im politischen Raum: Die potenzielle Freiheit eigenständigen Denkens - jenseits aller Glaubensrichtungen.

Mit dem Credo "Niemand hat das Recht zu gehorchen" lehnte sie alle Rückgriffe auf religiöse Dogmen zur Begründung von Gewissen und Moral ab, weil sie zutiefst davon überzeugt war, dass die auf solchen Wegen erzeugten Werte manipulierbar sind. In religiös organisierten Systemen kann jeder Moralkodex beliebig umgedeutet werden; wogegen die Vorstellung einer gemeinschaftlichen Ethik immer wieder neu überdacht und ausgehandelt werden müsse.

Nur darin sah sie eine Hoffnung für die Welt - und nur durch jene Menschen, die jederzeit einen Neuanfang machen können, die energisch für die politische Freiheit und Rechtsstaatlichkeit eintreten und einen radikalen Unterschied zwischen "privat und öffentlich" machen.

Auch ihr Zeitgenosse, der Philosoph Karl Jaspers, der, weil er sich von seiner jüdischen Frau nicht trennen wollte, von den Nazis ein Lehr- und Publikationsverbot erhielt, appellierte an das "eigentliche Selbst" des Menschen, seine Freiheit und Eigenverantwortung, die er durch jedes autoritäre System bedroht sah.

Neutrales Verhalten

Heute, da mehr als die Hälfte unserer jüdischen Mitbürger säkular und fortschrittlich unter uns leben, reißt man verwundert die Augen auf, wenn man sich einer plötzlich formierten radikal-religiösen Allianz gegenüber sieht. Und man fragt sich: Kann man deren Argumentation ernst nehmen?

Die Tradition sei "eine zweite Haut, die man nicht abstreifen könne" (Kommentar der anderen von Kurt Appel, DER STANDARD, 27.7.2012)

Die Überlegung, ob man Neugeborene nicht vor einem überflüssigen, schmerzhaften Eingriff bewahren sollte, könne "die kulturelle Substanz einer ganzen Menschengruppe vernichten"?

Der Staat und seine Regierungsspitze sollen ein "klares Bekenntnis zur juristischen Legitimität der religiösen Beschneidung in Österreich abgeben"?

Nun hat die österreichische Regierung den politischen Auftrag, sich konfessionsfrei und allen Religionsgemeinschaften gegenüber gleich neutral zu verhalten.

Wie könnte sie sich auf eine religiöse Erpressung einlassen? Selbst wenn die Gleichheit im Hinblick auf die katholische Kirche durch das Konkordat nicht wirklich gewährleistet ist - es wäre problematisch, jetzt auch noch in die Schuldgefühlsfalle der hierzulande sicher nicht genügend betrauerten Naziverbrechen zu tappen.

Die Religionsfreiheit endet, wo sie die Gewissensfreiheit Andersdenkender tangiert. Auch die Steinigung und das Menschenopfer hatten einmal religiöse Tradition; das Recht zur Züchtigung der Ehefrau und Kinder ist noch nicht so lange abgeschafft wie das Abhacken der Hand eines Diebes - und Grausames mehr. Wir haben es zum Glück überwunden.

Rational und von außen kann man dem Thema der rituellen Beschneidung ganz sicher nicht beikommen. Das zeigt vor allem die erschreckend überzogene Argumentation der traditionellen Konditionierung: Wie müssen sich Überlebende der nationalsozialistischen Vernichtungslager oder deren Nachkommen fühlen, wenn die Ermordung von Millionen mit dem möglichen Verzicht auf einen schmerzhaften "religiösen Akt" an Säuglingen verglichen wird? (Mit dem viele von den NS-Opfern außerdem wenig anfangen können).

Abwehr von Unglück

Eine Lösung liegt vielleicht darin, sich den Wurzeln des Rituals innerhalb der Religionsgemeinschaften und/oder der jüdischen Gemeinde zu stellen: Der in Leipzig lehrende Philosoph und Kulturtheoretiker Christian Türcke erklärt die Beschneidung als (relativ) harmloses Überbleibsel einer barbarischen Tradition, die einst, zur ängstlichen Abwehr von Unglück und Strafe, den ersten Sohn einem imaginierten, rachsüchtigen Gott opferte.

Religion bindet ja nicht nur Angst, sie erzeugt auch Angst. An die Stelle dieses grauenhaften Ritus trat später die Kastration, die dann ihrerseits durch die symbolische Entfernung der Vorhaut ersetzt wurde. Damit tradiere das Judentum eine - im wahrsten Sinn des Wortes - " einschneidende Gotteserfahrung", an die das Kind zwar keine bewusste Erinnerung habe - der Körper hat den schmerzlichen Schnitt jedoch erlebt und verinnerlicht. Die Folgen sind umstritten.

Türcke weiß jedoch, dass man weder medizinisch noch juristisch an das Problem herankommen könne: "Man muss den magisch-religiösen Kern dieser Praxis erkennen. Und dazu bedarf es der Rückerinnerung an das Menschenopfer." Diese Einsicht sei auch den Vertretern der anderen Religionen zu empfehlen, die sich mit dem Judentum, das sie Jahrhunderte lang erbittert verfolgten und diskriminierten, in dieser Frage plötzlich zu einem Bündnis zusammengeschlossen haben.

In Wahrheit geht es wohl um die gemeinsame Bedrohung religiöser Machtpositionen.

Eine vergnügliche Lösungsvariante läge im Humor eines Woody Allen, der seine jüdische Identität in allen Filmen betont und zugleich selbstironisch hinterfragt. Allen liest die Bibel mit liebevoll-nachsichtigem Blick auf die menschliche Naivität und erzählt die Geschichte von Abraham, der seinen Sohn Isaak zu opfern bereit ist, neu: Abraham glaubt, eine fordernde Stimme vernommen zu haben, und ist drauf und dran, den vermeintlichen Willen Gottes zu vollstrecken. Seine Frau Sarah ist außer sich vor Empörung über diese sinnlose Untat, kann ihn aber nicht davon abhalten. Als er zum tödlichen Schlag gegen Isaak ausholt, hält Gott ihm den Arm und schimpft: "Wie kannst du bloß so etwas tun?"

Abraham stottert verwirrt: "Aber du selbst hast es doch von mir verlangt ...?" Gott darauf: "Hörst du denn auf jede noch so verrückte Idee, die dir über den Weg läuft, rennst los und machst es? Ohne jeden Sinn für Humor? Ich kann's einfach nicht glauben!" Abraham ganz verzagt: "Aber beweist es nicht meine Liebe und Treue zu dir?" "Ach was", sagt Gott, "es beweist bloß, dass einige Menschen jedem Befehl folgen, ganz egal, wie kreuzdämlich er auch ist." (Leo Prothmann/Waltraud Prothmann-Seyersbach, DER STANDARD, 1.8.2012)