ELGA-Befürworter kommen vor allem aus der Verwaltung. Gesundheitsminister Alois Stöger, Patientenanwalt Gerald Bachinger, Gesundheitsökonom Christian Köck und der Chef der Niederösterreichischen Gebietskrankenkasse Jan Pazourek versuchen die Elektronische Gesundheitsakte so schnell wie möglich umzusetzen. Auch in der Ärzteschaft gibt es Befürworter, wie den Leopoldstädter praktischen Arzt Wolfgang Molnár.

Gegen ELGA spricht sich die Ärztekammer aus. Sie warnt beharrlich vor dem gläsernen Patienten. Unterstützung bekommt sie von Datenschützer Hans G. Zeger: Er kritisiert die mangelnde Datensicherheit.

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Es ist eine rote Pille. Klein und rund. Zweimal täglich muss er sie nehmen, fürs Herz oder gegen den hohen Blutdruck. Mehr Details sind dem Patienten nicht zu entlocken. Er weiß einfach nicht, welches Medikament er nimmt. 

Diese Szene spielt sich täglich ab. In Arztpraxen, in Ambulanzen, in Spitälern und in der Apotheke. Mühsame detektivische Kleinstarbeit folgt. Dabei könnte es so einfach sein, wenn es nach den Plänen von Gesundheitsminister Alois Stöger (SPÖ) geht. Sein Mammutprojekt Elektronische Gesundheitsakte (ELGA) soll Medikationen (Stichwort E-Medikation) und Befunde speichern, Kosten und Zeit sparen, niedergelassene Ärzte mit Spitalsärzten vernetzen und Patientendaten verwalten. Das ist sein Plan, Mitte 2013 soll ELGA in Kraft treten, eine gesetzliche Grundlage gibt es dafür aber noch nicht. Nach eineinhalb Jahren hat Stöger wieder einen neuen Gesetzesentwurf vorgelegt. 130 Millionen Euro soll die Errichtung bis zum Vollbetrieb 2017 kosten. 18 Millionen Euro kommen jährlich für die Erhaltung hinzu. Schon vor der Begutachtungsfrist wird der Entwurf von Kritikern zerrissen. 

Hat sich Alois Stöger verrannt und verkalkuliert? Seit Jahren verteidigt er das Projekt gegen alle Widerstände - von der Ärzteschaft, von der Opposition und auch vom Koalitionspartner. Dabei war das millionenschwere Projekt gar nicht seine Idee, sondern ist ein Erbstück aus der Amtszeit seiner Vorvorgängerin Maria Rauch-Kallat (ÖVP). Anfang Mai präsentierte Stöger eine Studie über die E-Medikation, ein Teilprojekt von ELGA. Mit der Evaluierung des Pilotprojekts konnte Stöger einen ersten Erfolg verbuchen, sie zeigte, dass das Computersystem bei jedem zweiten Arztbesuch Wechselwirkungen bei der Medikation erkannte. Das heißt: Lebensgefährliche Nebenwirkungen sollen dadurch vermieden werden.

Verhärtete Fronten

Erbittertster Gegner in der Debatte ist die Ärztekammer. Beharrlich warnt sie vor mangeldem Datenschutz und zeichnet das Bild des "gläsernen Patienten". Wenn ELGA in Kraft tritt, betrifft es in erster Linie niedergelassene Ärzte: Sie müssen die Software kaufen, ihr System kompatibel machen und befürchten Einnahmeneinbußen. Und niedergelassene Ärzte sind die wichtigste Klientel der Ärztekammer - auch wenn der Kampf gegen ELGA keine reine Klientelpolitik ist, wirkt es so. Gerald Bachinger, niederösterreichischer Patientenanwalt, versteht das Veto der Ärztekammer nicht. "Die Funktionärsschicht ist von ihrer Basis weit weg. Bei den Kampagnen wurde bewusst mit Fehlinformationen gearbeitet", ist der Patientenanwalt überzeugt. Die momentane Debatte sei katastrophal, es grenze an eine religiöse Auseinandersetzung. "ELGA ist für die Ärzte der Sündenbock für alles."

"An ELGA führt kein Weg vorbei", sagt der Gesundheitsökonom Christian Köck. Er sieht die Elektronische Gesundheitsakte als einen Schlüssel, "damit endlich Transparenz im Gesundheitssystem entsteht". Dass die Ärztekammer ELGA nicht will, sei eher ein Zeichen dafür, wie notwendig deren Einführung ist. Die Ärzte hätten kein Interesse an Transparenz, vermutet er. Köck sieht im Veto der Ärztekammer eine Verzögerungs-, aber auch eine Verhandlungstaktik: "Es kann auch eine Methode der Ärztekammer sein, sich das Mitmachen abkaufen zu lassen."

"Wir brauchen ELGA nicht", sagt Artur Wechselberger. Der Tiroler Ärztekammerpräsident, der neuer Präsident der Ärztekammer werden dürfte, kann darin keinen Vorteil für niedergelassene Ärzte erkennen. Es gebe bereits ein funktionierendes Austauschsystem. Wechselberger ist Allgemeinmediziner in Innsbruck. Wenn er einen Patienten zum Röntgen überweist, bekommt er via Intranet den verschlüsselten radiologischen Befund. Es ist ein gerichtetes System - nur der Arzt, der den Befund bestellt, bekommt ihn auch und kann ihn einsehen. 

Ärztekammer: ELGA verändert Arztbesuch

ELGA hingegen ist ein ungerichtetes System. Und mit ELGA dringe der Staat tief in die Interaktion zwischen Arzt und Patient ein, erklärt Wechselberger. Heute plant er jeden Tag Zeit für das Befundstudium ein - um die an ihn gerichteten Befunde zu kennen und dann mit dem jeweiligen Patienten zu besprechen. In der Patientenakte sollen Medikationsdaten, Labor- und Röntgenbefunde sowie Entlassungsbriefe aus dem Krankenhaus gespeichert werden. Bei jedem Arztbesuch bekommt der behandelnde Arzt für 28 Tage die Berechtigung, auf die Patientendaten zuzugreifen. Dann erlischt die Bewilligung.

Mit ELGA würde der Arztbesuch anders verlaufen. Hier wären alle Befunde gespeichert. Die Relevanz wäre für den behandelnden Arzt erst ersichtlich, wenn er mit dem Patienten kommuniziert. Wechselberger schließt daraus, dass er in Anwesenheit des Patienten die Untersuchungsergebnisse studieren müsste. "Ein Arztbesuch ist aber keine Lesestunde", sagt der Tiroler Ärztekammerpräsident verärgert. Er wertet das als Eingriff des Staates in die Interaktion zwischen Arzt und Patient. "Die wissen nicht einmal vom Hören und Sagen, wie sehr sie in unsere Arbeitsweise eingreifen."

Dem widerspricht Patientenanwalt Bachinger. Er hebt hervor, dass bei ELGA nicht nur der Arzt Einsicht in die Befunde hat, sondern auch der Patient. Die Patientenautonomie sei eine Revolution. "Der Arzt verfügt nicht mehr über ein Informationsmonopol." Die Selbstbestimmung sei ein wichtiges Grundrecht und verringere die Abhängigkeit im Behandlungsverhältnis. Der Arzt habe nämlich kein Recht auf eine Behandlungshoheit. 

Streitfall Opt-out-Regelung

Welche Daten der praktische Arzt einsehen kann, ist bis zu einem gewissen Grad dem Patienten überlassen. Es gibt eine Opt-out-Regelung, also ein Widerspruchsrecht. Der Zahnarzt muss also nicht über psychiatrische Behandlungen Bescheid wissen, der Urologe nicht über einen quer liegenden Weisheitszahn oder eine Fußfehlstellung. Die Opt-out-Regelung wird von den Ärztevertretern heftig kritisiert. Sie fordern eine freiwillige Teilnahme von Patienten, die aber laut Minister Stöger kaum administrierbar wäre.

Aber nicht alle niedergelassen Ärzte stehen ELGA so skeptisch gegenüber. Wolfgang Molnár, Allgemeinmediziner in Wien-Leopoldstadt, ist in Hinblick auf ELGA sehr gelassen. Er hält die Diskussion für zu polemisch und wenig sachlich. Die Grundidee findet er "hervorragend": "Es kann Leben retten, wenn man bestimmte Informationen hat, und es kann Leben kosten, wenn man bestimmte Informationen nicht hat." Bis zu 150 Patienten kommen jeden Tag in seine Ordination in der Unteren Augartenstraße. Die Praxis ist auch am Wochenende geöffnet, dadurch hat Mólnar viele Fremdpatienten. "Patienten, deren Krankengeschichte ich nicht kenne und die oft selbst nicht wissen, welche Medikamente sie nehmen", erzählt der praktische Arzt.

Beinahe täglich bekomme er E-Mails von der Ärztekammer, in denen diese vor ELGA warnt, dem gläsernen Arzt, dem gläsernen Patienten und der gläsernen Gesundheitsakte. Ein gläserner Arzt sei er heute schon, meint Molnár. Von der Krankenkasse werde alles gespeichert, was er verschreibt. Darüber erhält er regelmäßig Statistiken, auch ob er genügend Generika verschreibt. 

Patientenanwalt: Datenschutz ist "Killerargument"

Die Angst vor dem gläsernen Arzt grenzt in den Augen von Jan Pazourek, Generaldirektor der Niederösterreichischen Gebietskrankenkasse (NÖGKK), an eine "Verschwörungstheorie": "Wir zahlen dafür, wir können jetzt schon ablesen, wie oft ein Radiologe das rechte Knie röntgen lässt. So what? Das ist lächerlich."

Für die Ärztekammer ist die Debatte über ELGA nicht lächerlich. Sie war das wichtigste Thema bei der Ärztekammerwahl im Frühjahr. Bei jeder Gelegenheit richten die Ärztevertreter dem Minister aus, dass hier Unsummen Geld in ein Projekt gesteckt würden, das keiner wolle außer der Minister selbst. Das stimmt aber nicht ganz. Im November des Vorjahres hat eine Umfrage ergeben, dass 81 Prozent der Österreicher sich grundsätzlich für E-Health aussprechen. Die gleiche Umfrage zeigte aber auch, dass die wenigsten wissen, was E-Health ist oder was tatsächlich auf der E-Card gespeichert wird.

Anstatt eine Aufklärungskampagne zu starten, hat das Ministerium das Feld der Ärztekammer überlassen. Hier fehle ein "ordentliches Akzeptanzmanagement", analysiert Bachinger. ELGA brauche eine ordentliche gesetzliche Basis, dann sei der Datenschutz besser gewährleistet als heute. Den absoluten Datenschutz gebe es ohnehin nicht, das sei ein Killerargument, meint der Patientenanwalt. 

Gesundheitsökonom: Datenerfassung absolutes Muss

Die Hauptargumente der Ärztevertreter sind ein ungesichertes Datenvolumen und ungerichtete Befunde, das heißt ein größerer Zeitaufwand pro Patient. Sie befürchten Mehrarbeit statt Arbeitserleichterung. Behandle ein Arzt täglich 30 Patienten und müsse er für jeden Patienten zehn Minuten zusätzlich einplanen, komme er auf fünf Stunden Mehrarbeit.

Für Hans G. Zeger von der ARGE Daten ist ELGA ein teurer Etikettenschwindel. Die Verwendung sensibler Daten hält er für einen Grundrechtseingriff. Es sei wichtig, dass der Patient die Hoheit über seine Daten behalte, sagt Zeger. Seiner Meinung nach bräuchte es nicht die argumentierte Vernetzung von niedergelassenen Ärzten und Spitälern, sondern lediglich eine verbesserte Kommunikation. Die Rechtfertigung mit der Vermeidung von Doppelbefunden hält er für ein "Placebo-Argument": Es gebe keine Erhebung dazu, wie viele unnötige Doppelbefunde es tatsächlich gebe, und auch nicht, wie viele eingespart werden könnten. Auch NÖGKK-Chef Pazourek räumt ein, dass die Krankenkassen nicht seriös beziffern könnten, wie viele Doppelbefunde es gibt.

Für den Gesundheitsökonomen Christian Köck ist die Datenerfassung dagegen ein "absolutes Muss". Das österreichische Gesundheitssystem sei "extrem fragmentiert", keiner habe einen Gesamtüberblick. "Wir haben nicht das beste Gesundheitssystem zu besonders günstigen Kosten, wie gerne behauptet wird", sagt Köck, "wir haben ein durchschnittlich gutes zu relativ hohen Kosten." 

Wem aber bringt dann die Elektronische Gesundheitsakte den entscheidenden Vorteil? Gesundheitsminister Stöger, meint Datenschützer Zeger. Stöger habe dadurch die Chance, mehr Einfluss in der Gesundheitspolitik zu bekommen. Drei Spieler gebe es im österreichischen Gesundheitswesen: Bund, Länder und Sozialversicherung - derzeit sei der Bund der schwächste. ELGA, sagt Zeger, ist für Stöger die Chance, den Bund zu stärken und den Gesamtüberblick zu bekommen. 

Datenschützer: Landeshauptleute wie Gockel

Das Problem ist das "Schrebergartenwesen" in Österreich, analysiert Zeger. Die Landeshauptleute würden wie "Gockel" agieren und wollten keine Eingriffe in ihr System. Viel wichtiger wäre es laut Zeger, die gerichtete Kommunikation zu verbessern und die Systeme zwischen den Bundesländern zu verbinden. Tatsächlich hat jeder österreichischer Spitalsverband ein eigenes System, kompatibel sind sie nicht. Erst vor kurzem wurde ein Mädchen ins Landeskrankenhaus Wiener Neustadt eingeliefert, weil sie ein Plastikteil verschluckt hatte. Von Wiener Neustadt wurde sie ins Wiener Donauspital überstellt - ohne Untersuchungsergebnisse. Es war nicht möglich, die Befunde von Wiener Neustadt nach Wien zu leiten, weil die beiden Systeme nicht kompatibel sind. Die Befunde mussten mit dem Taxi geschickt werden.

Der Vorfall liefert Argumente für beide Seiten: die Sozialversicherungen, die nicht neun verschiedene Systeme haben wollen und ELGA als Lösung sehen. Und die Gegner, die sagen, es müsse nur in die bestehende Infrastruktur investiert werden und die Kompatibilität garantiert werden - dazu brauche es kein neues System, das ungerichtet operiert.

Als Vertreter der Sozialversicherung sieht Pazourek den Vorfall natürlich als Argument für ELGA. Was ihn aber am meisten ärgert, ist die Debatte über die Datensicherheit - Datenschutz als Hauptkritikpunkt zu bringen, während derzeit der Datenschutz "mit den Füßen getreten" werde, wie er sagt. "Es ist ein Irrglaube, dass es ohne ELGA Datenschutz gibt", so Pazourek. Derzeit erfolge der Datentransfer im ungeregelten Raum. Der NÖGKK-Direktor berichtet von der Homepage einer niederösterreichischen Arztpraxis, auf der man Rezepte online bestellen könne, wenn man - ungesichert - seine Daten eingibt.

Ein freiwilliges Konzept, wie es von der Ärztekammer bevorzugt wird, bewertet Pazourek als Utopie. Wenn sich Ärzte aus dem System ausklinken könnten, würde das nur Nachteile für die Patienten bringen. "Wir sind auch nicht bereit, in eine Infrastruktur zu investieren, wenn die Ärzte dann nicht mitmachen." Dass ein Patient mitbestimmen kann, welche Daten er preisgibt, auch davon hält der NÖGKK-Chef wenig. Das bringe große Nachteile für Ärzte, da sie bei einer Behandlung nicht über alle Informationen verfügen würden und auch nicht wüssten, welche Befunde hinausoptiert wurden.

Mehr Transparenz

Für Pazourek stellt der Protest der Ärztekammer ein verzerrtes Bild dar. Aus dem Spitalssektor erfahre ELGA Zustimmung, sagt er. Er vermutet auch finanzielle Motive hinter der Ablehnung. Während die Krankenkassen Doppelbefunde vermeiden wollten, stellten diese schließlich für niedergelassene Ärzte auch ein Einkommen dar.

Patientenanwalt Bachinger geht davon aus, dass niedergelassenen Ärzte vor allem wegen der größeren Transparenz skeptisch sind. Die Transparenz werde viel größer als bisher. Die Vernetzung aller Gesundheitsdaten mache die Vorgänge im Gesundheitssystem nachvollziehbar - ein funktionierendes ELGA könnte also vieles aufdecken und würde Fehler und Fehlabläufe auch für Patienten sichtbar machen. Das seien Vorteile und Risiken, für Ärzte biete es aber auch die Chance, die Qualität zu verbessern.

Gesundheitsökonom Köck bewertet ELGA nicht nur aus Patientensicht. "Wenn man so ein System hat, muss man natürlich einen nächsten Schritt gehen." Man müsse überlegen, in welcher Form die Versicherer Daten haben können, um sie zu analysieren und Gewinne für das System zu schaffen. Man müsse davon ausgehen, dass die, die zahlen, einen Überblick darüber haben wollen, wofür das Geld verwendet wird. Dafür sei ELGA ein Grundbaustein. (Marie-Theres Egyed, derStandard.at, 6.6.2012)