Die Innsbruckerinnen Nergiz, Eda und Ziynet (v. l.) kritisieren die veralteten Werte ihrer Eltern, aber auch jene der "modernen" Welt.

Foto: Willi Kozanek

Viele junge muslimische Frauen in Österreich könnten vom medialen Klischee nicht weiter entfernt sein.

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Unterschiedliche Anschauungen und Werte gehören zu jedem Genrationenkonflikt. Dass auch junge Frauen muslimischer Herkunft mit diesen Konflikten konfrontiert sind, überrascht also erst einmal nicht. Die Wucht und die Schnelligkeit, mit denen sich Werte innerhalb von zwei Generationen wandeln, überraschen allerdings schon. Was noch mehr überrascht, ist die Nichtwahrnehmung dieses Wertewandels: In den österreichischen Medien und den Köpfen vieler ist das Bild von Musliminnen immer noch von der Sarrazin'schen kopftuchtragenden Hausfrau geprägt.

Keine Identifikation mit "Hausfrau und Mutter"

Der Theologe Paul Zulehner beschrieb den Wertewandel unter jungen muslimischen Frauen in seiner im letzten Jahr veröffentlichten Studie "Religion im Leben der Österreicher 1970 - 2010". Demnach hat sich die Zahl der jungen Musliminnen, die bereit sind, sich Autoritäten "zu unterwerfen", im Vergleich zu ihrer Elterngeneration halbiert. Nur mehr sechs Prozent können sich mit einem Leben als "Hausfrau und Mutter" identifizieren. "Bei jungen Musliminnen von heute gab es einen unglaublichen Modernisierungsschub im Vergleich zu ihrer Vorgängergeneration. Heute sind junge österreichische muslimische Frauen teilweise moderner als ihre österreichischen Gleichaltrigen", sagt Zulehner.

Konflikte mit Eltern

Zulehner erklärt den Wertewandel bei muslimischen Frauen in Österreich damit, dass "diese von der Werte-Modernisierung mehr profitieren als die Männer". Junge Frauen islamischen Glaubens denken demnach vor allem in Fragen von Geschlechterrollen und Freiheitsverständnis anders als ihre Mütter - für Zulehner sind das zwei wesentliche Aspekte moderner Kultur.

Die Innbruckerinnen Nergiz, Eda und Ziynet sind Paradebeispiele für den Wertewandel. Und auch für unterschiedliche Auffassungen und Werte gegenüber ihrer Elterngeneration. Eda nennt folgendes Beispiel: "Ich wollte mit drei Freundinnen nach Norwegen fliegen. Meine Eltern wendeten ein, dass es zu unsicher sei für vier Mädchen, alleine zu verreisen. Also lud ich einen Freund ein. Dann meinten die Eltern, dass so eine Reise noch weniger in Frage kommt."

Trotz der Rebellion gegen veraltete Vorstellungen innerhalb der eigenen Familie finden die drei Schülerinnen in ihrer Heimat Österreich ebenfalls manches eigenartig. Dass hier zum Beispiel schon "13- und 14-Jährige saufen", verstört sie. Österreichische Kollegen hatten schon Alkoholvergiftungen, in den Heimatländern ihrer Eltern - Aserbaidschan und der Türkei - gibt es solche Exzesse unter Jugendlichen ihren Erfahrungen nach nicht.

Coole Männer, einsame Alte

Dabei bevorzugen die drei andererseits die Verhältnisse zwischen Männern und Frauen hierzulande: "Ich finde österreichische Männer schon cool. Sie lassen einer Frau mehr Freiraum als die Männer, die ich in Aserbaidschan kennengelernt habe", meint Nergiz. Andere zwischenmenschliche Aspekte überraschen sie aber immer wieder: "Ich finde es traurig zu beobachten, wie einige ältere Menschen hier mit ihren Haustieren reden, als wären sie Familienangehörige. Das sieht einsam aus." Ihrer Meinung nach ist der Zusammenhalt in aserbaidschanischen Familien stärker ausgeprägt als in Österreich.

Mann und Kinder lieber später

An Männer und Familie denken die drei zurzeit aber sowieso eher selten, denn die Ziele der Schülerinnen sind hochgesteckt: Nergiz will einmal an die Diplomatische Akademie, Ziynet Sprachen oder Jus und Eda Architektur studieren. "Irgendwann will ich schon einen Mann, zuvor will ich aber das Leben genießen", meint Ziynet. Die jüngste der drei Freundinnen kam mit elf Jahren aus Aserbaidschan nach Österreich und will nicht mehr dauerhaft in ihr Geburtsland zurückkehren. Die türkischstämmige Eda denkt ähnlich: "Ich liebe Istanbul. Wenn ich aber außerhalb der weltoffenen Städte bin und als Frau auf der Straße rauche, werde ich schief angesehen. Später erfahre ich, dass die Leute auch noch blöd über mich reden. Das passiert in Österreich deutlich weniger."

Kultur oder Religion?

Die Freiheit, die die drei für sich einfordern, und das Ablehnen konservativer Traditionen sind nur zwei Beispiele unter vielen, die einen Generationenkonflikt offenbaren. Einerseits erklären Ziynet, Eda und Nergiz, dass sie ihre Eltern lieben und stolz auf ihre Wurzeln sind, andererseits ist es für sie schwer, einen Spagat zu finden zwischen konservativen Einstellungen innerhalb der Familie und persönlichen liberalen Ansichten.

"Je älter meine Eltern werden, umso religiöser sind sie. Da ergeben sich ab und zu Meinungsverschiedenheiten über die Rocklänge oder die Enge der Jeans", erzählt eine der Schülerinnen. Eda denkt, dass viele Türken im Ausland Angst haben, ihre Kultur zu verlieren. Es verunsichere manche türkischen Österreicher, nicht genau zu wissen, wo die Grenze zwischen Kultur und Religion liege. Aus Angst, die eigene Kultur zu verlieren, hängen diese Menschen ihrer Meinung nach auch mehr an den eigenen Traditionen.

Kann man den Koran verstehen?

Nergiz versuchte, im Koran Antworten auf Alltagsfragen zu finden. Zum Beispiel, ob sie das Kopftuch tragen soll: "Ich habe nirgends gelesen, dass das für mich eine Pflicht sei. Ich habe den Koran auf Türkisch gelesen, aber ich habe keine Passagen finden können, die mich wirklich weitergebracht hätten." Das Unverständnis über die richtige Auslegung des Korans wird nach Meinung der drei oft missbraucht: "Die Doppelmoral bei vielen erstaunt mich. Ein Typ, der seinem Aussehen nach offensichtlich strenggläubiger Moslem war, baggerte am Innsbrucker Hauptbahnhof eine 19-jährige Freundin von mir aggressiv an. Das finde ich heuchlerisch."

Das Wort Allah ruft bei den drei Frauen "ein schönes Gefühl" hervor, und dieses gute Gefühl wollen sie mit ihrer Religion auch verbinden. Sie merken aber an, dass Leute, die laut das Verhalten anderer als unmoralisch anprangern, oft selber unmoralisch handeln. Dabei legen sie Wert darauf zu betonen, dass diese Leute allen Religionsgemeinschaften angehören, nicht nur den muslimischen.

Wie kann man Atheist sein?

Trotz aller Kritik an Moralpredigern und konservativen Einstellungen kann Nergiz sich nicht vorstellen, einmal nicht gläubig zu sein: "Ich respektiere jemanden, der nicht an Gott glaubt, aber selber könnte ich das nicht." Eda dagegen ist nicht gläubig. Sie findet es aber komisch, wie manche hierzulande "mit ihrem Atheismus herumprahlen". (Willi Kozanek, daStandard.at, 28.2.2012)