"Ein Tag Freiheitsentzug ist eine ziemlich harte Sanktion", sagt Pilnacek.

Foto: Standard/Hendrich

DER STANDARD-
Schwerpunktausgabe Gerechtigkeit

Foto: Standard

Standard: Viele Juristen sagen, es gebe keine Gerechtigkeit. Was sagt der Chef der Strafrechtssektion im Justizministerium?

Pilnacek: Man strebt nach Gerechtigkeit.

Standard: Auf der Homepage des Justizministeriums kommt der Begriff Gerechtigkeit sechsmal vor. Ein unterbeleuchtetes Thema?

Pilnacek: Gerechtigkeit ist eben ein Thema, das man im Rechtsalltag, mit dem wir uns beschäftigen, weniger verwendet. Auch weil die Gerechtigkeit so ein hehrer Begriff ist. Die letzte Gerechtigkeit wird man in der Justiz wahrscheinlich auch nicht erzielen können, aber man muss danach streben und zeigen, dass Gerechtigkeit möglich ist. Auf der Homepage des Ministeriums geht es mehr um Gesetzesentwürfe und Ähnliches; und Gerechtigkeit kann man nicht anordnen.

Standard: Und von Gerichten bekommt man keine Gerechtigkeit, sondern Urteile?

Pilnacek: Das ist etwas zynisch. Es ist immer unser Ziel, den Betroffenen durch die Gestaltung des Verfahrens und die Begründung der Entscheidung zumindest subjektiv zu vermitteln, dass versucht wurde, Ausgleich zu schaffen oder das Unrecht einer Tat angemessen zu beurteilen.

Standard: Wann ist ein Urteil gerecht?

Pilnacek: Das hängt von der Warte des Betrachters ab. Der vom Urteil Betroffene beurteilt das anders als die Verfahrensbeobachter: Es gibt verschiedene Gerechtigkeiten.

Standard: Das Gerechtigkeitsempfinden der Justiz und jenes der Gesellschaft fallen oft auseinander.

Pilnacek: Ja. Da liest man, jemand hat einen Vater und sein Kind zu Tode gefahren, und was bekommt er? Eine kurze Freiheitsstrafe, und die Instanz wandelt die in eine Geldstrafe um. Das finden viele ungerecht im Verhältnis zu dem Schrecklichen, was passiert ist. Wenn man aber alle Umstände rational mit bedenkt, ist es ganz anders. Man fragt: Wie wirkt die Tat auf den Täter, was stellt das Recht zur Verfügung, welche Kriterien muss das Gericht anwenden, um die Strafe auszumessen. Das sind sehr diffizile Abwägungen, die man jenen kaum verständlich machen kann, die nur sagen: Es ist etwas Schreckliches passiert, darum muss auch etwas Schreckliches folgen. Die Justiz aber hat keine Finalität, wir können nicht sagen: "Es ist etwas Schreckliches passiert, wir müssen nun einen Menschen aus der Gesellschaft entfernen." Wir müssen berücksichtigen, dass es weitergehen muss.

Standard: Damit die Gesellschaft Urteile für gerecht hält, muss sie das alles verstehen. Das dürfte oft nicht der Fall sein.

Pilnacek: Ja, und es spielt noch etwas eine Rolle: Die wenigsten wissen, was ein Tag Haft für einen Menschen wie dich und mich bedeutet.

Standard: Muss fürchterlich sein ...

Pilnacek: Eben, stellen Sie sich vor, nur einen Tag lang völlig von anderen abhängig zu sein. Vom Schlüssel, der die Zellentür öffnet, vom Wärter, der das Essen durchreicht; mit jemand anderem den Nassraum teilen, keinerlei Rückzugsmöglichkeit, Intimität haben. Ein Tag Freiheitsentzug ist eine ziemlich harte Sanktion.

Standard: Geht man nach ihrem derzeitigen Ruf, vermittelt die Justiz all das nicht ausreichend.

Pilnacek: Das stimmt, die Justiz erklärt zu wenig, warum auf bestimmtes Fehlverhalten nicht immer die härtesten Strafen folgen können. Es braucht mehr als einen Absatz in einer Zeitung, um Urteile im Einzelfall zu erklären.

Standard: Es ist aber schon die Justiz zuständig. Sie wollten ja die Begründung von interessanten Verfahrenseinstellungen im Internet veröffentlichen ...

Pilnacek: Ja, wir haben aber noch nichts veröffentlicht. Und was stimmt: Es gibt in der Justiz eine gewisse Scheu vor Begründungen.

Standard: Gerechtigkeit ist ein Produkt der Justiz, warum haben Sie Scheu, die zu vermarkten?

Pilnacek: Gerechtigkeit ist das hehre Ziel. Die Justiz soll besser erklären, was sie warum tut, ob das auch gerecht ist, müssen andere beurteilen. Beim Erklären haben wir sicher ein großes Manko, weil wir uns, wie viele andere Institutionen, viel zu wenig auf sich verändernde Gesellschaften und Medien, die all das transportieren, eingestellt haben. Die Gesellschaft tritt der Justiz nicht mehr wie früher mit Respekt entgegen, die Kritikbereitschaft ist gewachsen, und Entscheidungen werden öfter angezweifelt. Und weil wir darauf zu langsam reagiert haben, fehlt jetzt das Verständnis für das, was wir tun.

Standard: Woher kommt die Scheu vor Begründungen?

Pilnacek: Das ist ein kritischer Punkt. Richter sagen gern: "Meine Entscheidung kann nicht hinterfragt werden, weil ich unabhängig bin, ich muss mich nicht gegenüber der Öffentlichkeit rechtfertigen. Ich leite eine Verhandlung, fälle meine Entscheidung, begründe die in einer öffentlichen Verhandlung und das sollte Erklärung genug sein." Wir müssen aber den Wert dessen, was eine unabhängige Justiz tut, besser vermitteln. Die Unabhängigkeit ist gut, richtig und zu verteidigen, aber auch der Sinn von Gutem muss der Bevölkerung erklärt werden.

Standard: Die Justiz wird derzeit nicht mit Gutem assoziiert. Gesellschaftspolitisch war die Justiz das letzte Mal zu Zeiten von Brodas Strafrechtsreform ein Thema ...

Pilnacek: Das sehe ich nicht ganz so. Auch unter Dieter Böhmdorfer (FP-Justizminister von 2000 bis 2004; Anm.) gab es eine breite Diskussion, ob eine bestimmte politische Richtung die Justiz beeinflusst, ob man auf die Justiz mehr Einfluss nehmen will. Ich glaube auch, dass die Entscheidung für den unabhängigen Minister Nikolaus Michalek (1990 bis 2000; Anm.) eine bewusste war: Davor war die Justiz lange im Blickfeld widerstreitender politischer Interessen gestanden, darum hat man dann einen politisch Unabhängigen genommen. Das hat aber auch dazu geführt, dass die Justiz in der politischen Wahrnehmung lange Zeit ein weißer Fleck war.

Standard: Es braucht parteizugehörige Justizminister, damit Justiz gesellschaftspolitisches Thema ist?

Pilnacek: Nein, Gesellschaftspolitik setzt mehr voraus. Broda hatte ein riesiges Aufgabengebiet, da war der Reformbedarf der 1970er-Jahre, der sich seit den 50ern aufgestaut hatte. Die neuen Familienverhältnisse verlangten nach einer Familienrechtsreform, man hat eine große Strafrechtsreform gebraucht. Unter Broda wurden Veränderungswünsche der Bevölkerung erfüllt.

Standard: Vielleicht kam ihr die Justiz dadurch gerechter vor.

Pilnacek: Aber die zwingenden Reformen diskutieren wir ja auch heute. Die Veränderung der Familien, Obsorge, Umgang mit gleichgeschlechtlichen Partnerschaften: Das sind doch große, gesellschaftspolitische Themen. Aber vielleicht wird das nicht als Thema der Justiz wahrgenommen.

Standard: Beschäftigen solche und ethische Fragen wie Gerechtigkeit die Richter, Staatsanwälte, Anwälte heute überhaupt?

Pilnacek: Sie sind kein Thema der öffentlichen Diskussion. Aber in den Köpfen, die Urteile fällen, schwingen diese Fragen immer mit. Das Gesetz gibt den Strafrahmen vor, der Richter misst die Strafe individuell zu, je nach Milderungs- und Erschwerungsgründen. Diese Individualität ist Ausdruck von Gerechtigkeit.

Standard: Die Strafrahmen finden viele ungerecht, die Delikte gegen Leib und Leben seien zu gering im Vergleich zu Eigentumsdelikten. Da wird kritisiert, dass Ex-Banker Elsner zehn Jahre bekommt, ein Mörder dagegen nur vier Jahre.

Pilnacek: Stimmt. Das Verhältnis der Strafdrohungen für Eigentums- und Vermögensdelikte zu jenen für Sexual- und Gewaltdelikte beschäftigt auch uns. Wir beobachten aber, dass die Strafhöhe bei Letzteren in den vergangenen Jahren zugenommen hat. Aber auch diese Fragen darf man nicht eindimensional sehen.

Standard: Die Kritik an der Justiz macht sich an Fällen wie Buwog/Grasser oder Meinl fest, wo seit Jahren ergebnislos ermittelt wird. Finden Sie die Kritik ungerecht?

Pilnacek: Nein, die Kritik ist nicht ungerecht, subjektiv teile ich sie. Aus der Sicht von Zeitungskonsumenten und Betroffenen dauern diese Verfahren unangemessen lang. Spricht man aber mit denen, die das Verfahren führen, und betrachtet man die Ursachen für die Verfahrensdauer, sieht es anders aus: Es liegt an objektiven Hindernissen, dass es so lange dauert.

Standard: Stichwort Gegenwehr gegen Kontoöffnungen?

Pilnacek: Genau. Wobei in der Causa Buwog auch täglich Neues dazukommt. Das macht die Konzentration aufs Wesentliche, für die ich plädiere, schwierig.

Standard: Gäbe es mehr Gerechtigkeit, wenn Sie in der Justiz mehr Personal hätten?

Pilnacek: Es hängt nicht nur von der Quantität ab, ob etwas gut oder schlecht funktioniert. Die Ausbildung der Leute dauert lange. Und wir haben bei der Strafprozessreform, seit der der Staatsanwalt Herr des Ermittlungsverfahrens ist, nicht mit der Wirtschaftskrise gerechnet. Die hat sich in einer ungeahnten Zahl von Wirtschaftsverfahren materialisiert, bei denen wir nachforschen mussten, ob der Niedergang eines Unternehmens rein wirtschaftlich bedingt war oder ob etwas Betrügerisches dabei gelaufen ist. Das hat in einer Zeit, in der eine grundlegende Reform starten sollte, für wahnsinnige Unruhe gesorgt.

Standard: Welche Rolle spielt bei alldem die gefühlte Gerechtigkeit? Bawag-Chef Elsner galt der Öffentlichkeit zuerst als Buhmann, als er lange saß, als Justizopfer. Grasser wurde vom Traum- zum Buhmann, den die Justiz verschonte.

Pilnacek: Stimmt, Elsner wurde zunächst als jemand betrachtet, der schnell im Gefängnis landen soll, später als der, der die volle Härte des Gesetzes abbekam, während die Mitangeklagten das Verfahren unter gesicherten Verhältnissen erlebten. Das fanden viele ungerecht. Vollends gekippt ist die Stimmung, als die vorsitzende Richterin Ministerin wurde.

Standard: Und was finden Sie?

Pilnacek: Das war die Folge des Verfahrens, aber subjektiv schwer zu erklären.

Standard: Libro wurde nach zehn Jahren verhandelt, der Y-Line-Prozess hat nach elf Jahren noch nicht begonnen, Meinl läuft seit vier Jahren - kann Gerechtigkeit verjähren, im übertragenen Sinne?

Pilnacek: Insofern nicht, als die überlange Verfahrensdauer im Urteil berücksichtigt werden muss, jeder hat gemäß Verfassung das Recht auf ein faires Verfahren. Man muss dem, der lange Jahre unter dem Fallbeil einer strafrechtlichen Anklage oder Verurteilung stand, Anerkennung zollen. Da werden Erwerbschancen gemindert, man steht als Beschuldigter in aller Öffentlichkeit, diese Belastung wird oft sehr unterschätzt.

Standard: Wie ungerecht ist es dann, wenn so ein langes Verfahren ohne Anklage endet?

Pilnacek: Das ist ungerecht. Gerecht wäre es, wenn es da eine angemessene Entschädigung gäbe.

Standard: Angenommen, es gäbe die, und angenommen, Karl-Heinz Grasser würde nicht angeklagt: Er bekäme eine Entschädigung?

Pilnacek: Man müsste in jedem Fall die Frage stellen, wie sehr der Betreffende am Verfahren mitgewirkt hat oder ob die Justiz große Widerstände überwinden musste.

Standard: Sie waren Strafrichter. Haben Sie gerechte Urteile gefällt?

Pilnacek: Ich glaube: ja. Ich habe als Schlussbetrachtung des Tages immer Revue passieren lassen, ob ich das Richtige getan habe;man muss sich ja selbst Instanz sein. Aber: Ich war nicht immer zufrieden mit mir, unabhängig von der Entscheidung der Instanz.

Standard: "Der Richter soll gewissermaßen die lebendige Gerechtigkeit sein", sagte Aristoteles.

Pilnacek: Sehr schön. Das wäre es. (Renate Graber, DER STANARD, Print-Ausgabe, 25.2.2012)