Monika Haider definierte das lebendige Buch neu.

Foto: Nadja Meister

"Die Gebärdensprache erlebt gerade eine ähnliche Entwicklung wie das gesprochene Wort im Mittelalter. Mit der Erfindung des Buchdrucks wurden wir dazu gezwungen, unsere Dialekte zu standardisieren", erklärt Monika Haider. Als Geschäftsführerin von Equalizent, dem Qualifikationszentrum für Gehörlosigkeit, Gebärdensprache, Schwerhörigkeit und Diversity-Management, sieht sie sich zwar nicht als legitimierte Instanz für die Standardisierung von Gebärden, jedoch analysiert sie diesen Prozess quasi aus nächster Nähe.

"Schon die Unterschiede zwischen österreichischer und deutscher Gebärdensprache sind deutlich signifikanter als jene der Schriftsprachen", erzählt Haider. "Der jeweilige Wortschatz entstand oft sogar noch stärker regional geprägt innerhalb sehr kleiner Communitys - allein aus diesem Grund gibt es noch kein gestisches Standard-Deutsch." Die Vereinheitlichung der österreichischen Gebärdensprache hat also mit ihrer verfassungsrechtlichen Anerkennung 2005 erst begonnen.

Als Haider im Jahr davor für Equalizent zu arbeiten begann, stellte sie fest, dass es kaum Lernbehelfe für diese Minderheitensprachen gab. Im Zuge der Entwicklung von Methoden und Materialien für den Unterricht gelangte sie so zur Überzeugung, dass auch ein gewisses Repertoire an gestisch dargestellten Büchern enorm hilfreich wäre. Im Oktober 2009 ging schließlich die Sign Library als erste digitale Bibliothek für Weltliteratur in fünf Gebärdensprachen online.

Für LaInnen nicht nachvollziehbar mag dabei sein, mit welchen Nachteilen Gehörlose beim Lesen von gedruckten Büchern konfrontiert sind: Die Muttersprache von Nicht- oder Schwerhörenden sind ganz klar die Gebärden - jeder geschriebene Text (auch in der Referenzsprache) stellt also de facto bereits eine Übersetzung dar. Für das Erlernen von Fremdsprachen ist aber bekanntermaßen zuerst eine gute Kompetenz der Muttersprache unerlässlich. Was die "LeserInnen" der Sign Library demnach zu sehen bekommen, sind in der Originalversion gebärdete Bücher als Videos. "Bis zu 90 Prozent der Gehörlosen gelten als funktionale Analphabeten - und dies nur deshalb, weil sie gezwungen werden, von Beginn an in einer Fremdsprache zu lesen", ergänzt Haider.

Lanciert wurde die aufwändige Sammlung lebendiger Bücher, deren Darstellung pro Titel oft über ein Monat Produktionszeit in Anspruch nimmt, als EU-Projekt. Nun sind die Bibliothekare aber auf private Gelder angewiesen, damit die digitalen Regale nach und nach voller werden. Unterstützer gibt es in Deutschland, Ungarn und Slowenien sowie in zwei Nationalbibliotheken und dem PEN-Club Österreich. Im März 2011 erhielt die Sign Library zudem den "Staatspreis Multimedia" des Wirtschaftsministeriums.

Haiders Wunsch, selbst eine Gebärdensprache zu erlernen, wuchs übrigens schon während ihres Studiums der Pädagogik - und durch bare Empörung über eine Ungerechtigkeit: "Als ich studiert habe, war diese Sprache im Unterricht verboten - das hat sich zum Glück 1986 geändert. Vor dieser Zeit mussten gehörlose Schulkinder nämlich auf ihren Händen sitzen, damit sie nicht gestikulieren. Die Gebärden galten damals höchstens als Fuchtelei, in Kursen wurden sie kaum angeboten. Also habe ich eine Dame gebeten, die auf der Uni putzte, mir diese Sprache beizubringen." (DER STANDARD, Printausgabe, 28.12.2011)