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Die Rolle der Blutgerinnung und der Entzündungen bringen weitere altbekannte Mittel ins Spiel, etwa Aspirin.

Foto: APA/Martin Gerten

1865 kam der französische Mediziner Armande Trousseau zu einer verblüffenden Erkenntnis: Etliche seiner Patienten, bei denen er zunächst lediglich Thrombosen, also verstopfte Blutgefäße, diagnostizierte, entwickelten zugleich Krebs. Damit beschrieb er ein Phänomen, das noch immer Gültigkeit hat. Bis heute bezeichnen Mediziner Thrombosen, die während einer Krebserkrankung auftreten als "Trousseau-Syndrom". Und schon der französische Arzt stellte eine Frage, auf die die Krebsforschung jetzt erst beginnt, Antworten zu finden: Was hat Blutgerinnung mit der Entstehung von Tumoren zu tun?

"Mehr als man dachte", erklärt Sven Danckwardt von Zentrum für angewandte Medizinforschung in Halle. Bekannt ist, dass Tumore die Blutzusammensetzung erheblich verändern. Die wachsenden Krebsgeschwüre stauen Blut, geben winzige Partikel ab, die Blutplättchen verkleben lassen und verursachen Entzündungen. Doch erst in jüngster Zeit beginnen Wissenschafter zu verstehen, dass Tumorzellen wie Parasiten sind. Sie programmieren die zelleigene Maschinerie um - um unangreifbar für das Abwehrsystem und unsterblich zu werden, um zu wachsen und zu wandern. "Gerade für ihre Ausbreitung machen sich Tumore die von ihnen ausgelösten Entzündungen zunutze", so Danckwardt.

Signalweg beeinflusst Blutgerinnung

Tatsächlich beschrieb bereits der Pathologe Rudolph Virchow 1863, dass chronische Entzündungen Tumorbildung begünstigt. Doch erst im Februar dieses Jahres konnten Danckwardt und seine Kollegen vom Institut für Molekulare Medizin identifizieren, wie der Prozess abläuft. Die tumorvermittelten Entzündungen aktivieren einen Signalweg, der Medizinern bekannt ist. Er trägt den kryptischen Namen p38 MAP-K und ist als Auslöser für die schwelenden Entzündungen bei Asthma oder rheumatischen Erkrankungen bekannt.

"Wir stellten zu unserem Erstaunen fest, dass er auch die Blutgerinnung beeinflusst", so Danckwardt. P38 MAP-K kurbelt mithilfe eines bis dato gänzlich unbekannten Mechanismus die Bildung von Thrombin an. Dies verarbeitet den letzten Schritt in der langen Kettenreaktion, die dafür sorgt, dass Gefäßwunden verschlossen werden. Das aber ist nicht seine einzige Funktion. "Thrombin regt die Zellteilung an, stimuliert die Bildung neuer Blutgefäße und löst den Kitt, der Zellen zusammenhält, auf", so Danckwardt. Damit verschafft sich der Tumor das, was er am dringendsten benötigt: Blutzufuhr, um sich auszubreiten.

Das Wissen öffnet Spielraum für neue Therapien. Derzeit drängen nicht weniger als 17 Pharmafirmen mit sogenannten p38-MAPK-Hemmern auf den Markt. Allerdings: Nicht gegen Krebs, sondern gegen Atemwegserkrankungen wie Asthma oder COPD und entzündliches Rheuma.

Entzündung stoppen

Die Rolle der Blutgerinnung und der Entzündungen bringen weitere altbekannte Mittel ins Spiel, etwa Aspirin. Erst im Dezember veröffentlichten der britische Neurologe Peter Rothwell im Fachmagazin Lancet eine Untersuchung, die nicht weniger besagt, als dass eine wenigstens fünfjährige Einnahme von ASS, die Gefahr an Krebs zu sterben, um etwa 25 Prozent senkt (der Standard berichtete). Für einzelne Krebsarten liegt der Schutzeffekt noch höher: Bei Darmkrebs verringerte sich die Sterberate um 40 Prozent, bei Speiseröhrenkrebs gar um 60 Prozent.

ASS dreht an mehreren Stellschrauben, die der Tumor für sein Wachstum nutzt. Durch seinen entzündungshemmende Effekt kann ASS den von Danckwardt beschriebenen Prozess wenigstens abmildern. Es hemmt die sogenannte COX-Enzyme, die sowohl Entzündungsreaktionen vermitteln als auch dafür sorgen, dass sich Blutplättchen zusammenlagern. Gleichzeitig fördern aber COX-Enzyme die Gefäßneubildungen, das Zellwachstum und hemmen den natürlichen Zelltod, was bei Krebsvorstufen Tumorwachstum stört.

Stehen wir also vor einem Wandel der Krebstherapie durch Aspirin? "Derzeit würde kaum jemand massenhaft ASS verordnen, um vor Krebs zu schützen", schränkt Cornelia Ulrich, Leiterin der Abteilung Präventive Onkologie am Nationalen Zentrum für Tumorerkrankungen in Heidelberg, ein. Auch ein einfaches Kopfschmerzmittel kann auf lange Zeit Nebenwirkungen zeigen, wie etwa innere Blutungen. Dennoch ist auch sie davon überzeugt, dass die Gerinnungsneigung eines Patienten zunehmend Einfluss auf die Wahl der Therapie haben wird. Der Pionier der Blutkrebs-Forschung Armand Trousseau erlag übrigens seiner eigenen Diagnose: Zwei Jahre nach der Veröffentlichung seiner Studie starb er an einer Venenthrombose infolge eines Magenkarzinoms. (Edda Grabar, DER STANDARD, Printausgabe, 04.09.2011)