"Der Mensch ist für mich ein halluzinierendes Tier. So viel zum Stellenwert der Imagination", meint die Philosophin und Künstlerin Elisabeth von Samsonow.

Foto: Elisabeth von Samsonow

Bild nicht mehr verfügbar.

Samsonow betrachtet die Nahtoderfahrung als "integralen Teil unserer Erfahrungsbilder, wenn wir Geborene sind". Konkret: Wenn sich der Tod ankündigt, dann werden die Erinnerungen und Erfahrungen aktiv, die man bei der Geburt hatte."

Foto: AP/Markus Schreiber

Erstaunlich, dass sich Menschen nach einer Erfahrung wie der Geburt noch vor dem Tod fürchten, meint Elisabeth von Samsonow im Gespräch mit Eva Tinsobin und hält in Hinblick auf das Sterben jeden für kompetent.

derStandard.at: Was hat die Philosophie zu Nahtoderfahrungen zu sagen?

Elisabeth von Samsonow: Um über Nahtoderfahrungen zu sprechen, bin ich als Philosophin genötigt, eine andere Disziplin zu Hilfe zu nehmen. Nahtoderfahrungen lassen sich mit einem analysierenden Denken nicht erfassen oder herleiten. Sie sind keine philosophische Tatsache - ebenso wenig wie der Tod selbst, der für das Bewusstsein undurchdringlich bleibt. Man muss eine Todeserfahrung haben, den Tod eines anderen erleben. Oder selbst eine Nahtoderfahrung haben, um erinnernd darüber zu berichten. Philosophisch wird da eine Grenze erreicht: Das Bewusstsein endet in einem dunklen Schacht, zu dem es keinen Zugang hat, weil es selbst Licht ist. Es ahnt wohl, dass da eine solche Grenze, eine Schwelle ist.

derStandard.at: Wie gehen Philosophen damit um?

Samsonow: Philosophen schreiben das Nachwort zu den Ereignissen. Wir kommen zu unserer eigenen Geburt zu spät, und das gilt in übertragener Weise auch für den Tod. Das ist es, was uns genau zu denken gibt. Deshalb bezeichnet sich die Philosophie auch als "Meditatio mortis". Wir wissen, dass das, was uns bevorsteht, von ähnlicher Natur wie die Geburt ist, aber es entzieht sich unserem Denken. Wir sagen: Tod und Geburt sind Grenzen des Denkens. Man kann auch als Philosophin beklagen, dass die Geburt vergessen wird, so wie Hannah Arendt das gemacht hat, oder dass der Tod verdrängt und versteckt wird.

derStandard.at: Wenn wir keinen bewussten Zugang zu Geburt und Tod haben, ist es dann nicht konsequent, den Beginn und das Ende unseres Lebens zu vergessen?

Samsonow: Wir vergessen Geburt und Tod nicht nur, wie uns etwas entfällt, sondern wir vergessen sie auch aktiv, indem wie sie verbannen. Das ist die Haltung unserer Gesellschaft. Ist das eine "philosophische" Reaktion? Eher nein. Die philosophische Phänomenologie etwa betrachtet dieses Hinlaufen auf den Tod, diesen Regress als unabschließbar und stellt fest, dass Geburt und Tod unter dem Horizont des Bewusstseins nicht ergründbar sind. Aber sie setzt, in einer Formel wie dem Heideggerschen "Sein zum Tode", die umfassende Bedeutung des Todes für das Dasein fest. Das bedeutet, dass der Tod seinen Schatten voraus wirft und eine bestimmte Seinsweise erzeugt, eben die Sterblichkeit.

derStandard.at: Fällt Ihnen eine Möglichkeit ein, darüber hinaus auf philosophischer Basis über Geburt und Tod sprechen zu können?

Samsonow: Wenn ich Geburt und Tod nicht nur als negative, also entzogene, sondern als sogar direkt zugängliche Bestandteile der Existenz betrachten will, muss ich als Philosophin einen ganz anderen Zugang zu Hilfe nehmen. Ich nähere mich am besten an über Felder, auf denen die Imagination regiert. Diese Felder liegen zwischen Kunst und Religion und sind auch aus der philosophischen Warte gut sichtbar. Kunst und Religion beschäftigen sich mit fast nichts anderem als mit einer poetischen Fassung der Momente der Existenz, die sich der Philosophie entziehen.

derStandard.at: Wie kann man sich das vorstellen?

Samsonow: Man kann sich das so vorstellen: Der Körper selbst ist ein kompetenter Speicher von Ereignissen - ein intelligenter Körper, der auf seine Weise alles "weiß". Er kann Bilder vom Geborenwerden und dem anderen Schwellenereignis, dem Sterben, frei setzen, eben imaginieren. Wie etwa Rauch aus einem Weihrauchgefäß aufsteigt. Das, was ein Nahtoderlebnis darstellt, wäre dann also sind nicht nur negativ - über das Entzogensein und das Nichtdenkenkönnen - sondern positiv, in einem bestimmten Bild zu sehen. Ein Schluss daraus könnte sein: Wir sind doch kompetent Geborene und kompetent Sterbende. Jeder, der einmal über die Schwelle gegangen ist, also Geborener ist, ist im Hinblick auf das Sterben kompetent.

derStandard.at: Wenn wir kompetent Geborene und Sterbende sind, warum brauchen wir dann Himmel und Hölle?

Samsonow: Zur Hölle hätte ich eine kulturhistorische Kurzgeschichte des Innenraums anzubieten: man muss wissen, dass die Himmel der Alten einmal im Erdinneren angesiedelt waren, dort, wo für jetzt die Hölle ist. Hölle ist die Helle, die Helligkeit des alten, inneren, im Erdinneren angesiedelten Himmels. Die asphodelischen Wiesen und die elysischen Felder liegen im Erdinneren, wie auch die grünen Wiesen der Frau Holle bis ins 12.Jahrhundert, nach Bächtold-Stäubli. Es gibt ein Tor, durch welches man hindurch muss, einen Tunnel wie ein Brunnenschacht. Die Griechen hatten eine Idee einer Schattenwelt, die im Erdinneren liegt: sie kannten einen Ort der Ungeborenen, der Schatten, die scharf sind auf das Blut der Lebenden. Da setzt nun doch schon der Horror ein....

derStandard.at: Wofür stehen Himmel und Hölle?

Samsonow: Himmel und Hölle, beide stehen für die Qualität des Hüllenwechsels, für das ins Leben kommen und ums Leben kommen. Geburt und Tod werden von Menschen erlebt und die Erlebnisqualität wird in der Kunst und Religion aufgezeichnet. Himmel und Hölle geben die Punktewertung dazu: Wie wird das erlebt? Das Leben trägt die Spur in sich, die Spur des ersten Hüllenwechsels in der Geburt. Die Auffassung vom Leben geht also ganz direkt aus einer sehr tief wurzelnden Bewertung der Erlebnisqualität der Geburt hervor, und so verhält es sich wohl auch mit dem Tod.

derStandard.at: Was bedeutet das Geburtserlebnis für den Geborenen?

Samsonow: Die Geburt ist für den Menschen ein riskanter Moment. Man könnte sogar sagen, dass jede Geburt eine Risikogeburt ist. Menschen werden mit diesem großen Kopf geboren, der die Geburt so riskant macht. Kein einziges Tier hat so einen riesigen Schädel im Verhältnis zum Körper wie der Mensch. Das setzt Mutter und Kind unter Stress.

Himmel und Hölle sind möglicherweise poetische Fassungen der Empfindungen, der Erinnerungen der Risikogeburt. Der selige Zustand des Schwimmens im Fruchtwasser ist nun doch einige Zeit vor der Geburt dahin. Das kleine Wesen erhält ein Signal, dass es in dieser Hülle nicht mehr lange blieben kann. Damit kommt Gefahr ins Spiel, die Idee der Hölle ist geboren. Die Hölle hat für uns den Index "Innenraum". Dieser wird zunächst im Mutterleib als paradiesische Höhle erlebt. Er wird aber kurz vor der Geburt zu eng, was eben Angst, die Verengungsgefühle, erzeugt. Enge, Angst und Verknappung - das sind sehr negative Emotionen.

derStandard.at: Kann man dann sagen, dass die Geburt als Tod wahrgenommen wird?

Samsonow: Die Kinder freuen sich offenbar nicht nur auf ihre Geburt. Sie kommen unter Stress, sie glauben zu sterben. Erstaunlich, dass sich nach einer solchen Erfahrung die Geborenen überhaupt noch vor dem Tod fürchten.

derStandard.at: Vielleicht fürchten wir uns, weil wir uns an unsere Geburt nicht erinnern?

Samsonow: Das ist eine wichtige Frage: Welchen Stellenwert ist man bereit, der Imagination einzuräumen? Wird sie als bildende Kraft in Bezug auf das Leben oder als eine plastische Kraft auf die Struktur der Gedanken anerkannt? Dann wäre sie doch von höchster philosophischer Relevanz.

derStandard.at: Was bedeutet das für Nahtodvisionen?

Samsonow: Die Nahtoderfahrung ist wohl integraler Teil unserer Erfahrungsbilder, wenn wir Geborene sind. Aus unserer Erfahrung als Geborene lässt sich offenbar die Todeserfahrung "hochrechnen", also indirekt haben. Wenn sich der Tod ankündigt, dann werden auch diese Erinnerungen aktiv. In diesem Moment können die Erfahrungen aktiviert werden, die man bei der Geburt hatte.

derStandard.at: Das würde sich dann etwa als Licht am Ende des Tunnels äußern?

Samsonow: Das muss es sein.

derStandard.at: Angeblich sind zwei Drittel der wissenschaftlich erfassten Nahtoderfahrungen erhebende und überwältigende Erlebnisse, ein Drittel sind Horrorerlebnisse. Können Sie aus philosophischer Warte heraus erklären, warum?

Samsonow: Es wäre vielleicht interessant und zielführend, entlang der Thesen von Stanislav Grof (Anm.: Medizinphilosoph, Psychotherapeut und Psychiater) die sogenannten perinatalen Matritzen zu untersuchen. Er hat diese Erfahrungen, die aus der Zeit um die Geburt stammen, ernst genommen. Ein Weg durch die Kunstgeschichte mit Grof zeigt uns exakt, wie die Ikonografie des Nahtodes aussieht. Es sind Bilder, die wir kennen: Hölle, Jüngstes Gericht, der Garten der Lüste, so ziemlich alles, was Hieronimus Bosch interessiert hat. Man muss nicht einmal einen neuen Nahtod erfinden.

Bereits im alten Ägypten beschäftigte man sich mit der Frage: Was muss ich tun, wenn ich sterbe? Wie wird es sein? So gab es "Trainingsstätten", Imaginationstraining für hypothetisch Entleibte - also für Nahtoderfahrung, nicht wahr? Die Idee ist die, dass die Imagination als stärkste erlebbare Kraft über den Horizont des Todes hinauswirkt: dass dein Himmel und deine Hölle so stark sind wie deine Imagination. Das erklärt vielleicht auch die zwei Drittel schönen Erlebnisse und ein Drittel Horrorerlebnisse.

derStandard.at: Das heißt, wir könnten unsere Todesimaginationen trainieren?

Samsonow: Wir könnten in einer Gesellschaft leben, die alle fünf Jahre eine bezahlte 14-tägige Sterbensmeditation auf Kassa vermittelt. Eine Todeskarenz. Man betrachtet sein Leben und stellt sich seinen Tod vor um reinen Tisch zu machen und fit zu sterben. Eine Pränatale- und Postmortem-Akademie, eine Dies- und Jenseitsuniversität.

derStandard.at: Eine gewagte Frage: Könnte die Vorstellung von Himmel und Hölle von den weitererzählten Nahtoderfahrungen Einzelner herrühren?

Samsonow: Die Frage ist nicht gewagt. Peter Dinzelbacher hat in seinen Forschungen festgestellt, wie sehr sich Visionen gleichen. Menschen reproduzieren sie nach den Mustern, die sie von anderen kennen. Es ist ein medialer Bereich, in dem Muster reproduziert werden. Kepler hat durch sein Fernrohr nichts gesehen. Galilei hat deshalb etwas gesehen, weil er eine Kunstausbildung hatte.

Die Tradition der Visionäre ist ein Feld, innerhalb dessen sich die Menschen bewegen. Es gibt Erfahrungen darüber, wie man das vermittelt, und gewisse Strukturen, die überliefert werden. Bei der Vorstellung von Himmel und Hölle oder bei Nahtodvisionen werden offenbar auch Wahrnehmungsmuster aktiviert, die im Bewusstsein vorliegen. Das Bewusstsein ist ein Operator, der verschiedene Dinge miteinander verschalten kann. Man muss von einer "Anthropologie des halluzinierenden Tieres" sprechen. Der Mensch ist für mich ein halluzinierendes Tier. So viel zum Stellenwert der Imagination.

derStandard.at: Wo gehen wir hin, wenn wir sterben? Wie kehrt man wieder zurück, wenn man eine Nahtoderfahrung macht?

Samsonow: Menschen gehen über Schwellen und reagieren sehr stark darauf. Sie sind Schwellenwesen, die sich dessen bewusst sein müssen, dass das, was sie ausmacht - ihre Lebensform, ihr Bewusstsein, ihre Erfahrungen und Empfindungen - über diese Schwelle gekommen ist und wieder über diese Schwelle gehen wird müssen. Ich möchte da großzügig sein mit allen Reinkarnationslehren und Selbstmultiplikationen-Ideen, ich finde sie sehr humanistisch. Ich habe ein theoretisches Problem mit diesem Einmal-Leben, auch wenn es das Privileg der Einzigkeit enthielte. Das einmal Geborenwerden ist kein Privileg sondern eine Bedrohung für mich, weil Ende und Anfang absolut erschreckend werden.

derStandard.at: Ende und Anfang sind wesentlich weniger wichtig, wenn ich in einen Kreislauf eingebunden bin...

Samsonow: Klar!

derStandard.at: Machen Sie solche Forderungen nach der Miteinbeziehung der Illusion, des Traumes und anderer bildlicher Erfahrungen nicht angreifbar als akademische Philosophin?

Samsonow: Der größte Teil der Philosophie ist bildgesteuert, eine Selbstunterhaltung des Geistes, eine "Phänomenologie des Geistes", eine auto-hypnotische, eine halluzinatorische Aktion, wie der französische Philosoph und Historiker Hippolyt Taine beispielsweise sagen würde. Ich habe zu viele bedeutende Komplizen in der Philosophiegeschichte, um mir berechtigte Sorgen zu machen. Es gibt zu viele Hypnosetheoretiker, zu viele Hynosophen in der Philosophiegeschichte, als dass man glauben könnte, Philosophie sei eine Sache der reinen Vernunft. Der Traum stand bei alten Kulturen viel höher im Kurs als der Wachzustand. Man würde vielmehr Gefahr laufen, kein ernstzunehmender Philosoph zu sein, wenn man diese breite Bewegung des Denkens außer Acht ließe. Was ist der Steuerungsmechanismus, der uns treibt? Wir haben ein Recht auf unsere Träume - auf eine andere Welt. (Eva Tinsobin, 17.05.2011, derStandard.at)